12. Kapitel
Erschienen in: Die Rampe oder An der Lethe wachsen keine Bäume (06/2013)
»Es ist nicht einfach, diesen Dingen zu begegnen«, sagt Anna leise und sieht ihn mit ihren großen Augen an, »aber von einem Krieg oder einer Front, die hier verläuft, zu reden, ist abwegig. Ich begreife langsam, wie Männer in solchen Ausnahmesituationen denken und handeln, und niemand gebietet ihnen Einhalt; ganz im Gegenteil: Einige heizen die Stimmung noch an und lauschen entzückt dem Sirenengesang. Für sie könnten diese Tage endlos sein. Ich will gar nicht davon reden, wie sich Dunker und Wilnow im Dorf benehmen. Langsam treten bei ihnen animalische Züge hervor.« Dann schweigt sie. Sie ist vorsichtiger geworden, wenn sie mit ihm spricht. Sie spürt seine Anspannung. Er merkt, dass sie auch von ihm spricht und mag es nicht, wenn sie so redet, ihn belehrt. Sobald er sich in eine Ecke gedrängt fühlt, reagiert er aggressiv. »Glaubst du, andere Menschen würden anders reagieren als meine Männer? Schon nach wenigen Wochen würde die kulturelle Tünche abblättern. Du machst dir etwas vor, wenn du glaubst, der Mensch sei gut. Das Böse ist allgegenwärtig, es hat uns eingekreist und lässt uns niemals los. Sobald wir uns der Rampe nähern, fühlen wir, wie es aus den Steinen kriecht und stinkender, giftiger Atem uns umhüllt....