Chroniken: unheroische Dokumente
Erschienen in: Recherchen 123: Brecht lesen (06/2016)
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Schon beim flüchtigen Durchblättern der „Chroniken“ stellt der Leser fest, dass sie in keiner Hinsicht einlösen, was der Titel der Lektion erwarten lässt. Ihre Haltung ist der Idee, die sich mit dem Wort Chronik verbindet, diametral entgegengesetzt. Es weckt die Erwartung, dass von konkreten Personen mit Namen und Taten berichtet wird. Bei Brecht kommen aber die Namen eher den Orten zu (Fort Donald, Hathourywald), nennen nur den Chef (des Cortez Leute), sind kollektive Allerweltsnamen (George, Jonny), werden zerlegt (Marie A. – Maria) oder sind offenbar allegorische, „sprechende“ Namen wie Hanna Cash. (Benjamin hat einmal vermerkt, dass der sprechende Name eigentlich eine Flucht vor dem Namen bedeute.) Die Helden bleiben im Grunde namenlos. Nur auf den ersten Blick erscheint das auftretende Personal konkret. Auf den zweiten fällt Abstraktion ins Auge: Durchschnittlichkeit, Anony mität, Kollektiv.
Wenn sich der christliche Leser der Chronik an der Transzendenz orientieren soll, so führen ihn Brechts „Chroniken“ in „fremde Erdteile“. Ist diese Exotik und Ferne von der alltäglichen Erfahrung eine Parodie der „Transzendenz“? Dann verstünde man besser den Sinn jenes „Fluidums des Unwirklichen“1, das an diesen Gedichten haftet. Gelten Brechts „Chroniken“ laut „Anleitung“ für die Zeiten der Naturgewalten („Schneefälle, Erdbeben, Bankerotte“), so antworten die...