Zeit für Utopien
von Anne Fritsch
Erschienen in: Theater unser – Wie die Passionsspiele Oberammergau den Ort verändern und die Welt bewegen (04/2022)
Die neue Pandemie kam zu einem Zeitpunkt, als im Ort alles einigermaßen zur Ruhe gekommen schien. Die Vorbereitungen für die Spiele 2020 waren in einer ungewohnten Harmonie abgelaufen, es gab keine Bürgerentscheide und keine größeren Proteste. So wenig Reibung war selten. Dass die Änderungen, die Stückl vorgenommen hat, wichtig waren, um die Spiele ins neue Jahrtausend zu überführen, haben inzwischen die meisten im Ort eingesehen. Das Vertrauen in ihn ist bei seiner vierten Passion so groß, dass man nicht mehr über jede Inszenierungsidee im Gemeinderat diskutiert. Der Erfolg hat ihm Recht gegeben.
Die Passionsspiele haben nie so viel nationale und internationale Anerkennung bekommen wie in den vergangenen zehn Jahren. Stückl wurde allein 2020/21 mit drei Preisen für sein Engagement für Toleranz und gegen Antisemitismus ausgezeichnet. Ihm wurde der Abraham-Geiger-Preis, der Toleranz-Preis der Evangelischen Akademie Tutzing und zuletzt die Buber-Rosenzweig-Medaille verliehen. 2014 wurden die Passionsspiele „Immaterielles Kulturerbe“, 2020 nahm die New York Times die Spiele in Oberammergau in ihre Liste der „52 Places to Go in 2020“ auf. Im November 2020 schließlich ernannte die Gemeinde den einstigen „Bühnenschreck“ zum Ehrenbürger: „Der Gemeinderat möchte Herrn Christian Stückl als Oberammergauer Bürger und Persönlichkeit und als Person mit tiefer Verwurzelung im Ort für sein...