Realness ist nicht realistisch
Einige Beobachtungen zum Grenzverkehr zwischen Kunst und Wirklichkeit
von Peter Laudenbach
Erschienen in: Lob des Realismus – Die Debatte (09/2017)
„Wir werden unser Bestes tun, um nicht in den verhängnisvollen Fehler zu verfallen, in Romanen nach dem sogenannten ‚wirklichen Leben‘ zu suchen. Wir wollen gar nicht erst den Versuch machen, die Fiktion der Fakten mit den Fakten der Fiktion in Übereinstimmung zu bringen.“
Nabokov, Vorlesungen über „Don Quijote“
Zu Beginn des Jahres 2017 konnte, wer wollte, in den Berliner Sophiensaelen an einem „Social Bootcamp“ der Künstlergruppe Social Muscle Club teilnehmen. Die aus „einem privaten Happening“ entstandene Veranstaltung bot laut Eigenwerbung „zahlreiche Übungseinheiten für die sozialen Muskeln wie Geben und Nehmen, Einsatz und Engagement, Offenheit und Authentizität“. Die Besucher sitzen mit Fremden am Tisch, man notiert auf Zetteln, was man sich von den anderen wünscht und was man im Gegenzug zu bieten hat, ein Lied zum Beispiel, eine Massage, ein Gespräch über das Glück oder einen gemeinsamen Spaziergang. In einer anderen „Übungseinheit“ sitzt man mit verbundenen Augen am Tisch und erzählt einander seine Träume. Oder man erlebt, was eine Reporterin des Regionalsenders RBB in einem Bericht über die Veranstaltung im Vollbesitz des gängigen Renommiervokabulars eine „Kochperformance“ nennt. Um was es an diesem Abend in einem Off-Theater geht, erklärt eine der Veranstalterinnen, die Schauspielerin Rahel Savoldelli, so: „Das Leben ist ein ongoing...