Analytischer Realismus im Roman
von Enno Stahl
Erschienen in: Lob des Realismus – Die Debatte (09/2017)
Realismus ist ein „kontaminierter Begriff“1. Er wurde von verschiedensten Autoren und Künstlern ver- und gewendet, ge- und vernutzt, gezerrt und verfremdet, diskutiert und bekämpft oder sogar von Demagogen in Beschlag genommen (man denke etwa an den sozialistischen Realismus).
Realismus – Begriff wie Programm – stand immer in der Debatte, berühmt ist der Streit zwischen Brecht und Lukács, bei dem es letztlich einmal mehr darum ging, was Realismus ist und was er darf. Während Lukács gegen Experimente wetterte und stattdessen den bürgerlichen Realismus präferierte, legte Brecht in dieser Frage ein geradezu funktionalistisches Verständnis an den Tag: „Realistisches Schreiben ist keine Formsache. Alles Formale, was uns hindert, der sozialen Kausalität auf den Grund zu kommen, muß weg; alles Formale, was uns verhilft, der sozialen Kausalität auf den Grund zu kommen, muß her.“2
Der sozialen Kausalität auf den Grund zu kommen, das hieß in der Geschichte des Realismus oft, zu zeigen, wieso die unterdrückten oder unterprivilegierten Schichten oder Klassen dort waren, wo sie waren, welche Lebensumstände dort walteten, wer oder was ihrer Befreiung im Weg stand. Anders gesagt, man verstand unter Realismus oft Unterschichten- oder Elendserzählungen, etwa im italienischen Verismo Giovanni Vergas oder im deutschen Naturalismus. Eine Rolle spielte das...