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Geschichten vom Herrn H.: Klassikerschändung und Zwergenaufstand
von Jakob Hayner
Erschienen in: Theater der Zeit: Deutsche Zustände – Intendanten über ein neues politisches Selbstverständnis (10/2019)
Es gibt im Kunstbetrieb einen eigenartigen Brauch. Er geht ungefähr so: Man nehme eine Person des kulturellen Lebens und fördere eine Tatsache zutage, die mit den herrschenden Sitten unvereinbar erscheint. Diese Enthüllung skandalisiere man mit möglichst spektakulären Mitteln. Ein solcher Vorgang lässt diejenigen, die ihn verantworten, als ausgesprochen mutig, unerschrocken und nebenbei auch ebenso kritisch und kreativ erscheinen, selbst wenn der der Verfehlung Beschuldigte schon lange tot ist. Was aber gar von Vorteil ist, denn Widerspruch oder ernsthafte Auseinandersetzung sind bei dem Vorhaben eher hinderlich. So widerfuhr es jüngst auch Goethe zu seinem 270. Geburtstag. Die Künstlergruppe Frankfurter Hauptschule bewarf das im Weimarer Ilmpark gelegene Gartenhaus am Tag vor der Eröffnung des Kunstfests Weimar mit Klopapier. So weit, so lustig. Die per Video dokumentierte Aktion sorgte in der Stadt kaum für Aufmerksamkeit. Umso mehr in den Medien. „Wir haben das Goethe-Haus in Weimar geschändet“, verkündete die Frankfurter Hauptschule selbstbewusst.
Goethe, der „lüsterne Dichtergreis“ sei „nicht irgendein alter, weißer Mann, sondern der alte, weiße Mann“. Er habe Frauen nachgestellt und mit dem „Heideröslein“ zudem „Vergewaltigungslyrik“ verfasst. Auch strotze sein Werk vor „erotischen Hierarchien zu Ungunsten seiner Frauenfiguren“, die wie das Gretchen „naive Dummchen“ seien. Kurz: „Wir fanden Goethe schon immer scheiße...