Bleib dir selber treu
von Peter Raue
Erschienen in: Zeitgenoss*in Gorki – Zwischenrufe (03/2023)
Verrücktes Blut in der Inszenierung von Nurkan Erpulat war der größte unter vielen Erfolgen, den Shermin Langhoff als Chefin des Ballhauses Naunynstraße hatte. Glänzende Kritiken, eine Einladung zum Theatertreffen, mehrere Gastspiele! Mit einem Schlag war nicht nur den Berliner Theatergängern, sondern deutschlandweit klar, was Shermin Langhoff unter „postmigrantischem“ Theater versteht. Sesede Terziyan als Lehrerin will mit Schülern Schillers „Räuber“ und „Kabale und Liebe“ lesen, was den Schülerinnen und Schülern auf den Keks geht. Diese verdammten kleinen gelben Reclam-Heftchen! Ihr Ziel erreicht die Lehrerin nur mit „Bildungsterrorismus“: Die Pistole, die einem Schüler aus der Tasche fällt, ist das Instrument, mit dem sie ihre Schülerinnen und Schüler verschiedener Herkunft zu engagierten Lesern und Leserinnen macht.
Der Erfolg dieser Arbeit war der Steigbügel für den Weg zur Intendantin des Gorki Theaters, das Langhoff nun seit neun Jahren leitet. Kontinuität und Diskontinuität zwischen der „alten kleinen“ und der neuen spektakulären Tätigkeit belegt der unvergessene Auftakt im Gorki ausgerechnet mit Tschechows Kirschgarten, wieder inszeniert von Nurkan Erpulat. Kann Taner Şahintürks Lopachin das Gut der Ranjewskaja retten? Was ist Heimat? Kann die Fremde zur Heimat werden? Kein Abend der leisen melancholischen Töne und Szenen, sondern ein hochpolitischer Schrei nach Offenheit für die sogenannten Fremden und...