thema II: theaterland baden-württemberg
Wo Gefahr ist, wächst das Rettende
Das Theaterland Baden-Württemberg zwischen Krisenindizien und Neugewichtung
Erschienen in: Theater der Zeit: Schauspiel Leipzig – Martin Linzer Theaterpreis 2017 (06/2017)
Assoziationen: Baden-Württemberg Schauspiel Stuttgart

Baden-Württemberg gilt vielen als Theaterwunderland. Als der reiche Südwesten, in dem eine Theaterlandschaft blüht und gedeiht, die in den Punkten Dichte, Ausstattung und Zuschauerzahl im bundesweiten Ranking zusammen mit Bayern und NRW ein Spitzentrio bildet. Ein Theatermusterländle also? Keine Frage, dass dies auch mit der Flächengröße und der Wirtschaftsstärke des Südweststaats zu tun hat, der die höchste Exportrate und die geringste Jugendarbeitslosigkeit im Bund vorweisen kann.
Sicher, trotz eines vergleichsweise soliden Finanzierungssystems gibt es auch hier Engpässe und Sparattacken, zunehmende Angebotsdichte in den Ballungsgebieten und Verödungsgefahr auf dem Land. Doch Fusionen, Spartenabbau oder Schließungen sind hier die Ausnahme. Dass badenwürttembergische Bühnen trotz dieser Vorzugsstellung relativ selten zum Berliner Theatertreffen eingeladen werden, ist ein anderes Thema. Eine Frage der innovatorischen Kraft, der Ästhetik? Oder eher eine Vorurteilsstruktur im Spannungsfeld zwischen Metropole und Provinz? Immerhin, das Schauspiel Stuttgart rangiert beim Berliner Theatertreffen mit insgesamt 31 Einladungen auf einem hervorragenden vierten Platz – hinter dem Burgtheater Wien (49), den Münchner Kammerspielen (45) und dem Schauspielhaus Hamburg (36). Einladungen anderer baden-württembergischer Bühnen? Sind selten und mindestens zehn Jahre her; bis auf Karlsruhe, das es 2016 mit dem Doku-Projekt „Stolpersteine Staatstheater“ erstmals in die Berliner Top Ten schaffte.
„Das Theaterland Baden-Württemberg lässt kaum Wünsche offen“, bilanziert das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst. Werbelyrik? Vielleicht, doch der Südweststaat ist im Ländervergleich gut aufgestellt, umfasst zwei Staats-, drei Landes- und neun Kommunaltheater, ein Regionaltheater, 31 Kleintheater, eine freie Szene mit rund 150 Gruppen oder Einzelkünstlern, 16 Theaterfestspiele (darunter der international ausgerichtete Heidelberger Stückemarkt) und etliche Amateurbühnen.
Zwei Stichproben sollen wenigstens einen Eindruck von der Bandbreite geben. Tief im Osten, kurz vor Bayern, hält sich in Aalen wacker und quicklebendig das wohl kleinste Theater der Republik, das einen bemerkenswerten State of the Art des modernen deutschen Stadttheaters bietet, mit Uraufführungen, Klassikern und Sommer-Freiluftstück, samt Zwischenlandung der Gruppe Rimini Protokoll, die auch hier ihren wohnzimmerkompatiblen „Hausbesuch Europa“ offerierte. Im Nordwesten wiederum besitzt Mannheim mit dem Nationaltheater das bundesweit größte, seit 2012 um eine Bürgerbühne erweiterte Mehrspartenhaus, das etwa das vierzigfache der Zuwendungen erhält, die Aalen bekommt. Speziell das Schauspiel in Mannheim hat sich als Ur- und Erstaufführungsbühne mit wechselnden Hausautoren von Ewald Palmetshofer bis Reto Finger profiliert und zeigt, dass damit Zuschauerrekorde möglich sind. Wichtigste Personalie dieses Jahr im Theaterland Baden-Württemberg: Der Mannheimer Schauspiel-Intendant Burkhard C. Kosminski wechselt 2018 ans Staatsschauspiel Stuttgart.
Aus der Geschichte des 1952 gegründeten Doppel-Landes Baden-Württemberg resultiert, dass es die Württembergischen Staatstheater in Stuttgart und das Badische Staatstheater in Karlsruhe gibt. Neben den großen Tankern Stuttgart, Mannheim und Karlsruhe existieren – unabhängig von der Spartenzahl geordnet nach Zuwendungshöhen – Theater in Freiburg, Heidelberg, Ulm, Heilbronn, Pforzheim, Konstanz, Baden-Baden und Aalen. Pforzheim wies 2011 unter den Großstädten bundesweit den zweithöchsten Anteil an migrantischer Bevölkerung auf (46,6 Prozent), Heilbronn (46,1) den dritthöchsten. Für die Grundversorgung in der Fläche sind die drei Landestheater Tübingen, Esslingen und Bruchsal zuständig, die neben ihren Aufgaben vor Ort auch als Wanderbühnen über Land ziehen. Einziges Regionaltheater im Land ist das Theater Lindenhof im Albdorf Melchingen.
Wenn man so will, liegt Baden-Württemberg in maximal möglicher Entfernung zu Berlin. Der Wechsel von der Hauptstadt in den Südwesten, wie ihn Armin Petras 2013 vom Maxim Gorki Theater in Berlin ans Staatsschauspiel Stuttgart vollzogen hat, ist die Ausnahme. In umgekehrter Richtung ist mehr los: Mit Ulrich Khuon, Nina Hoss oder Stephan Kimmig haben sehr viele Theater-Berliner einen baden-württembergischen Migrationshintergrund. „Berlin verschwäbelt“, sagt Frank Castorf. Und inszeniert am Schauspiel Stuttgart Platonows „Tschewengur“. Obwohl Baden-Württemberg also mit Bayern und Nordrhein-Westfalen zu den drei reichhaltigsten Theaterlandschaften bundesweit zählt, wird es nicht unbedingt als treibende Kraft oder Innovationsmotor großer Theaterdiskurse wahrgenommen. So bleibt ein widersprüchliches Bild: reich ausgestattet, aber irgendwie doch peripher, am Rande?
Lange Zeit galt Baden-Württemberg als Theatersonnenkönigreich. Das Land, das 58 Jahre fest in der Hand CDU-geführter Regierungen war, glänzte einst bundesweit mit der flächendeckenden „Kulturkonzeption“ von Hannes Rettich (1989). In einer Mischung aus Bewunderung und Ironie schrieb die FAZ damals vom „Land, wo … Kunst und Honig fließen“. Weniger gut bewertet wurde die 2010 entstandene Landeskonzeption „Kultur 2020“ – Tenor: „Dick, schwer und visionsfrei“. Seit 2011 amtiert, lange undenkbar, im Südwesten ein grüner Ministerpräsident. Während sich in Theaterländern wie NRW und Mecklenburg-Vorpommern Krisensymptome häufen, ist die Theaterszene in Baden-Württemberg noch immer vergleichsweise gut sortiert. Hier werden sogar neue Bühnen gebaut: In Schwäbisch Hall entsteht für die Freilichtspiele anstelle des hölzernen Globe-Theaters ein fester Neubau, in Heilbronn ein neues Proben- und in Reutlingen ein neues Theaterzentrum.
Doch wie rüstet sich das Theaterland Baden-Württemberg mit Blick auf die Demografie-Daten und die finanzielle Schieflage der Bühnen, da bei rund achtzig Prozent Personalkosten die künstlerischen Spielräume immer enger werden? Welche Zukunftsvisionen gibt es inhaltlich und strukturell? Der programmatische Umbau geht meist von den Bühnen selbst aus. Beispiel: Das Theater Rampe Stuttgart – entfernt orientiert am Berliner HAU und Kampnagel in Hamburg – hat sich umgebildet zur Produktionsstätte für zeitgenössisches Autorentheater, Performances und erweiterte, experimentelle Formate. Denn der freien Szene, so formulierte es der aus Esslingen stammende Jochen Sandig, Gründer des Radialsystems Berlin und designierter Intendant der Ludwigsburger Schlossfestspiele, fehlt meist noch immer die „Hardware“. Und auch im reichen Südwesten gelten, obwohl nicht so krass wie anderswo, die besorgniserregenden Ergebnisse des „Report Darstellende Künste“ insbesondere für die „Freien“: niedrige Einkommen, wenig Fördermöglichkeiten, so dass gar die Rede war von einer „Avantgarde des Prekariats“ (Adrienne Goehler). Die Politik reagiert – mit verstärkter Förderung nicht-institutioneller Gruppen, mit Umorientierung und Erweiterung der Förderspektren.
Weiter zum Thema Umbau: Die Kulturstiftung des Bundes unterstützt mit ihrem Programm „Trafo – Modelle für Kultur im Wandel“ beispielsweise eine Kooperation zwischen dem Landestheater Tübingen und dem Theater Lindenhof. Ergebnis ist das Projekt „Stadt.Land.Im Fluss.“, eine Theaterwerkstatt zur Stärkung der Kultur im ländlichen Raum. Und die Landespolitik setzt Akzente: etwa mit dem 2012 gebildeten Innovationsfonds, der feste und freie Theater fördert – bei interkulturellen, innovativen, integrativen und partizipativen Projekten. Bisher sind bereits 465 befristete Projekte mit mehr als elf Millionen Euro unterstützt worden. Das Spektrum der aktuell geförderten Vorhaben 2017 reicht von Flüchtlingsprojekten über ein „Faustexperiment“ mit Robotern in Aalen bis hin zu einer Demokratie-Collage über Populismus in Rottweil.
Finanzengpässe, Strukturprobleme, demografischer und migrantischer Wandel: Während manche Theaterländer auf Krisensituationen zusteuern, hat Baden-Württemberg mit einer teils ambitionierten Neugewichtung der Theaterlandschaft zumindest begonnen. Hier hat man Hölderlin begriffen: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ //