Look Out
Abgründige Sprachlosigkeit
Die Berliner Regisseurin Rieke Süßkow trifft radikale Entscheidungen
von Christine Wahl
Erschienen in: Theater der Zeit: Zwillingsbruder eines Bürgerkriegs – Wajdi Mouawad und der Libanon (09/2020)
Kritiker bezeichnen eine gelungene Inszenierung ja schnell einmal als „radikal“. Aber Rieke Süßkows „Medea“-Version ist es wirklich. In ihr fällt den ganzen Abend über kein einziges Wort. Trotzdem – oder womöglich gerade deshalb – wirkt die Ehetragödie, in der Medea mit ihrem fremdgehenden Gatten Jason feststeckt und schließlich die gemeinsamen Kinder tötet, hier besonders abgründig.
Die Schauspielerinnen und Schauspieler agieren in einem durchsichtigen Edelwohnkasten; man schaut der Familie von außen, durch transparenten Gazestoff, bei ihren Alltagsroutinen zu: Zeitungslektüre, Abendessen, Hausaufgabenerledigung, sexuelle Verrenkungsgymnastik im Ohrensessel und – ganz wichtig – die regelmäßige Belohnungspralinenverteilung als innerfamiliäres Macht- und Positionsbestimmungsritual. Die Hartnäckigkeit und Präzision, mit der es Süßkow gelingt, tatsächlich Sprachlosigkeit zu inszenieren (und nicht etwa ein populäres Missverständnis von ihr, die beredte Pantomime), besitzt wirklich Seltenheitswert. Kaum zu glauben, dass der Abend, der 2019 auf Kampnagel Premiere feierte und sofort zu Branchenevents wie dem jungen europäischen Regiefestival Fast Forward nach Dresden eingeladen wurde, erst Süßkows Diplomarbeit ist: die Abschlussinszenierung ihres Regiestudiums an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg.
„Mich hat an ,Medea‘ die Frage nach der Selbstunterdrückung interessiert“, erklärt die 1990 in Berlin geborene Regisseurin, bei der die kolchische Königstochter aussieht wie Jackie Kennedy. Das tatsächliche Leben hat sich hinter dem...