Theater der Zeit

Auftritt

Wien: Nachtportier, analfixiert

Volkstheater Wien: „NV / NIGHT VATER / VIENNA“ von Paul McCarthy und Lilith Stangenberg

von Dora Dorsch

Erschienen in: Theater der Zeit: Der Untergang des russischen Theaters (10/2022)

Assoziationen: Lilith Stangenberg Volkstheater Wien

Splatter und Splitter auf der Drehbühne „NV / NIGHT VATER / VIENNA“ von und mit Paul McCarthy und Lilith Stangenberg am Wiener Volkstheater. Foto Paul McCarthy. Courtesy the artist and Hauser & Wirth. Photos Ryan Chin and Alex Stevens
Splatter und Splitter auf der Drehbühne „NV / NIGHT VATER / VIENNA“ von und mit Paul McCarthy und Lilith Stangenberg am Wiener Volkstheater.Foto: Paul McCarthy. Courtesy the artist and Hauser & Wirth. Photos Ryan Chin and Alex Stevens

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Ich habe nicht geklatscht. Warum nicht?! Sollte den Akteuren doch bei allen kritischen Vorbehalten generell die Würdigung ihrer Verausgabung zustehen.

„Was für eine Verschwendung von kostbarem Material!“, dachte ich manchmal, wenn ich McCarthys cartoonhafte, formal oft höchst simple Plastiken sah – etwa das kompositorisch grobe Niveau einer Gartenzwerg-Replik mit Dildo, aufgedonnert zur überlebensgroßen Bronze. Wenn das Kritik sein möchte an Spießbürgerlichkeit, müssen wir dafür wirklich den Preis dauerhafter visueller Ödnis im öffentlichen Raum zahlen? Genügte nicht ein vergänglicher Scherz? Wird er komischer durch das Metall mit Ewigkeitswert?

Ein fast 30 Jahre altes charmantes Video im Internet, voll verspielter Einfachheit und clownesker Poesie mit dem Titel „The Painter“ machte mich neugierig auf Paul McCarthys neue performative Arbeit „Night Vater“ im Wiener Volkstheater (Teil der Reihe „NV / Night ­Vater“, der seit 2017 andauernden Ausein­andersetzung von Paul McCarthy und Lilith Stangenberg mit den Themen), versprach die künstlerische Partnerschaft mit der eigensinnig-mutigen Schauspielerin Lilith Stangenberg doch Unvorhersehbarkeit, Bereicherung: Variationen über das Thema „Der Nachtportier“ waren angekündigt, ein kontrovers diskutierter Film der Regisseurin Liliana Cavani aus den frühen 1970er Jahren, der übrigens Charlotte Rampling zum internationalen Durchbruch verhalf.

Ich war gespannt auf eine assoziative Reise durch Themen wie Missbrauch von Abhängigen, Trauma und Rache oder Vergebung, Sexualität als Herrschafts-Instrument, Kampf um Würde und Selbstbestimmtheit, Täter-­Opfer-Umkehr, Totalitarismus und Verachtung von Minderheiten, Verwandtschaft von Narzissmus und Sadismus, monströse Unschuld sowie die Gratwanderung zwischen Hingabe und Masochismus, Grenzerfahrung, Grenzüberschreitung, Hass und Hässlichkeit, Sucht und Fetisch, das Stockholm-Syndrom, Geschlechterkampf, Selbstfindung im Schmerz, Verwechslung von persönlicher Nähe und brutaler Unterdrückung, Sehnsucht nach dem Guten im ultimativ Bösen, der Suche nach Transzendenz selbst in der Hölle, die tödliche Illusion, die frühere Erniedrigung dieses Mal, dieses eine, letzte Mal noch, in einen triumphalen Sieg verwandeln zu können.

Nach ewigen 90 Minuten Geiselhaft in der Live-Aufzeichnung eines durchschnittlichen analfixierten Pornofilms saß ich wie gerädert in meinem Theatersessel und wünschte mir, von Scotty hochgebeamt zu werden. Alle Haushaltsgegenstände und Nahrungsmittel waren erschöpfend zum Einsatz ­gebracht worden, d. h. nach Anrichtung mit sämtlichen verfügbaren Körperflüssigkeiten in leicht prognostizierbare Körperöffnungen verschwunden. Inhaltlich kam das Skript mit dem übersichtlichen Repertoire von vier bis fünf hingerotzten, gestöhnten Elementarsätzen der Sex-Industrie aus. Als glitschiger Geschlechtlichkeit keine Steigerung mehr abzutrotzen war, blieb noch die gerade Strecke in den Tötungswillen, ins Beißen-Fressen-Messermetzeln, überlebensgroß auf Screen gedoppelt. Nach gelb und braun floss es noch blutig rot. Nacherzählt scheints dramatisch ergiebiger als es tatsächlich war. So erleichtert war ich vom vorzeitigen Ende der Vorstellung (unausdenkbare 3 bis4 Stunden waren angekündigt), dass ich bereit war, in den Splatterresten auf der aufwendigen Drehbühne Splitter von Bedeutungsebenen zu entdecken. Immerhin, ich hatte mich die erste Hälfte der Veranstaltung wahrhaftiger gefühlt als in der kühl gezierten und verkitschten „Anna-Karenina“-Premiere im Theater in der Josefstadt, das trotz seiner gewaltigen leidenschaftlichen Sujets mehr und mehr zu einer „So-tun-als-ob-Fabrik“ verrutscht.

Ja, ich sah doch in „Night Vater“ alle Verfremdungs-Referenzen: die perfekt kopierten Filmkostüme der Protagonisten, ein Kameratechnikpark auf neuestem technischem Stand, das grotesk gealterte Loriot-Männchen mit aufgeklebter Silikonnase und billiger Perücke aus „The Painter“, die unwirkliche, gleichzeitig verschlossene wie durchsichtige, Schönheit von Lilith Stangenberg, tatsächlich eine Art exzessiver Schwestervision von Charlotte Rampling. Warum riss mich ihr hemmungsloser Exhibitionismus nicht zu Begeisterungsstürmen hin? Klar: KZ-Wärter und sein Opfer. Woran aber erkennbar für mich? Klar: Wiener Aktionismus. Warum nur bei mir dumpf übersättigter Ekel ohne Erkenntnis?

Ich fühlte mich missbraucht. Niemand hatte mich gefragt, ob ich dabei sein wollte, wie eine junge Frau ihren Großvater letal vögelt. Ich muss und will nicht traumatisiert werden, um Traumatisierung zu begreifen. Spießbürgerlich wie ich bin, mache ich mir verzweifelte Gedanken über die Brutalisierung unserer Gesellschaft und womit unser Bewusstsein Kriege wie den derzeitigen in Europa ermöglicht. Wo Lösung und Erlösung schlummern? Ich hatte keine Waffe. Ich habe nicht geklatscht. //

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