Vorwort
von Veronika Sellier
Erschienen in: Stück-Werk 4 – Deutschschweizer Dramatik (01/2006)
Was ist das „typisch Schweizerische" an den in diesem Arbeitsbuch porträtierten Dramatikerinnen und Dramatikern? Gibt es das Spezifische, einen gemeinsamen Nenner? Was macht das vorliegende Buch überhaupt notwendig, werden doch Stücke von vielen Schweizer Theaterautoren selbstverständlich an deutschsprachigen Theatern gespielt und die Dramatikerinnen immer wieder mit Preisen ausgezeichnet?- Nicht die Suche nach einer Festschreibung gab den Impuls zu diesem Buch, sondern vielmehr die Erfahrungen und Entwicklungen der letzten Jahre, in denen sich die Deutschschweizer Dramatikerszene so lebendig entwickelte wie kaum zuvor. Nicht der Wunsch nach Katalogisierung, sondern das Darstellen der Vielfalt, Lebendigkeit und Vielschichtigkeit der Deutschschweizer Dramatik steht somit im Fokus dieses Buches.
Noch vor sechs Jahren stellte sich die Situation anders dar. Dachte man an Deutschschweizer Autoren, dachte man an Dürrenmatt und Frisch und die Schwierigkeit, aus dem Schatten der Überväter zu treten. Man dachte allenfalls an Thomas Hürlimann, der schon lange, bevor die Diskussion um das Nazigold öffentlich geführt wurde, in seinen Stücken auf die dubiose Rolle der Schweiz während der Nazizeit aufmerksam gemacht hatte. Oder an Urs Widmer, der sich gemeinsam mit dem damaligen Neumarkt-En-semble mit „Top Dogs" in die Herzen des Publikums geschrieben hat. Im Sommer 1999 stellte Christine Richard, damals Feuilletonchefin der Basler Zeitung, die Frage nach der Dramatikerförderung in der Deutschschweiz. Das Ergebnis war erstaunlich mager. Es gab wenig Initiativen, es fehlten Informationen, Kohärenz. Das Urteil der Journalistin fiel entsprechend aus: „Schweizer Dramatikern fehlt so gut wie alles: ein einheitlich großes Sprachqebiet, durchschlagende Fördermodelle, mächtige Verlage vor Ort, ein auf zeitqenössische Dramen neugieriges Publikum, aufgeschlossene Theater, die sich das finanzielle Risiko von Uraufführungen, Schreibwerkstätten und Stückefestivals leisten können-und vor allem der nötige Konfliktstoff." Der Artikel schien zunächst ein klassischer Sommerlochartikel zu sein, aber er erschien in einem Moment, als das Bewusstsein für das Problem bereits geschärft war, und löste bei einigen tatsächlich den Impuls aus, gemeinsam über Fördermodelle nachzudenken.
Die Zeiten waren günstig. Zu offensichtlich war das leuchtende Beispiel des Royal Court Theatre, das via die „Baracke" am Deutschen Theater Berlin im ganzen deutschsprachigen Raum bekannt geworden war. Quasi zeitgleich entstanden in der Deutschschweiz diverse private Initiativen. Die Modelle reichten von der Basisförderung wie „Schreiben für die Bühne" des Schweizer Verbands des Kinder- und Jugendtheaters ASTEJ, der „Autorenwerkstatt" am Theater Basel, der „Stückanalyse" des Centre Suisse, „DamenDramenlabor" der Frauen im Theater (FiT)- bis hin zur Förderung von Autoren mit Theatererfahrung, bei denen der Praxisbezug im Vordergrund steht. Nach der Devise „raus aus der Schublade, rauf auf die Bühne" stellte die (inzwischen eingestellte) Basler „Antischublade" bereits vorhandene Stücke in Werkstattinszenierungen vor. Im „Dramenprozessor", einem Projekt des Zürcher Theaters an der Winkelwiese, entwickeln vier bis sechs Jungdramatiker während zehn Monaten ihre Texte in Beqleitung von Autoren, Regisseuren und Dramaturgen und haben immer wieder mal die Möglichkeit, sie mit Hilfe von Schauspielerinnen auf ihre Bühnentauglichkeit zu überprüfen. Am Ende der Ausbildung werden die Texte in szenischen Lesungen prasentiert. Verläuft es plan- und wunschgemäß, gelangen die Stücke in der folgenden Spielzeit zur Uraufführung. Die Stipendiaten der „Masterclass MC6", vom Internationalen Theaterinstitut ITI ins Leben gerufen, erarbeiten während neun Monaten ein Stück zusammen mit einem Master wie Marlene Streeruwitz oder John von Düffel. Partnerschaften zwischen Autoren und Theatern sind dabei die Voraussetzung, ein Stipendium für „,MC6" zu erhalten, und sollen die Uraufführung der in diesem Rahmen entstandenen Stücke garantieren. Erstaunlicherweise gingen diese Initiativen ausnahmslos von kleineren Theatern und von Künstler-Verbänden aus. Es wurden Koproduktionsmodelle entwickelt, an denen sich Theater, Veranstalter, Verbände und Förderer beteiligten. Auch wenn es nie beabsichtigt war, haben sich im Laufe dieser Jahre aufeinander abqestimmte Module der Schreibwerkstätten ergeben. „Dramenprozessor" und „MC6" wären ohne die vorher geleistete Basisarbeit anderer Initiativen in dieser Form sicher nicht denkbar.
Die Dramatikerförderung wurde zu einer Erfolgsstory. Die Nachfrage nach einer Schreibausbildung, sei es bei den Basiskursen, sei es für Stipendien, ist seit Beginn groß und steigerte sich mit deren wachsendem Bekanntheitsgrad. So haben viele der jüngeren hier porträtierten Dramatiker und Dramatikerinnen das eine oder andere Förderprojekt durchlaufen. Die Geldgeber, Öffentliche Hand und Privat, Theater- und Autorenverbände sind diesen Initiativen bis heute wohl gesonnen. Deutsche Verlage (in der Schweiz gibt es keinen renommierten Theaterverlag) bereichern ihr Programm mit Schweizer Autoren. Neue Theatertexte werden in Stadttheatern und von unabhängigen Gruppen gespielt und nachgespielt und finden ihr Publikum. Und möglicherweise hat die positive Resonanz der Schreibwerkstätten auch den Weq zur Einrichtung einer „nationalen Ausbildungsstätte für literarisches Schreiben" geebnet. Das Schweizerische Literaturinstitut, das von mehreren Universitäten und Hochschulen getragen wird, soll im Herbst 2006 seinen Betrieb aufnehmen und auch „Schreiben für die Bühne" anbieten. So erstaunlich schnell die intensive Nachwuchsförderung Früchte getragen hat, kommt nun schon die Zeit, parallel dazu über andere, weiterführende Wege der Autorenpflege nachzudenken. Denn die einzelnen Projekte stehen und fallen mit dem Engagement sowohl der Initianten als auch der Personen, die in den entsprechenden Fördergremien das Sagen haben. Nachwuchsförderung ist einfach, kostengünstig und prestigeträchtig. Doch was passiert mit dem Mittelfeld, mit denen, die nach fünf Jahren bereits nicht mehr zum Nachwuchs zählen? Welche Möglichkeiten einer Anbindung an Theater gibt es, Möglichkeiten, die sowohl für Autoren als auch für Theater künstlerisch und finanziell gewinnbringend sind?
Die Förder- und Schreibinitiativen haben zweifellos dazu beigetragen, die Deutschschweizer Theaterlandschaft zu dynamisieren. Aber sie kamen auch zu einer Zeit, in der das Theater in der Schweiz sich in einem allgemeinen Aufwind befand. So gehörten Lukas Bärfuss, Igor Bauersima und Brigitte und Niklaus Helbling mit ihren Gruppen „40oasa", „Off Off-Bühne", „Mass & Fieber" zu den Protagonisten der Schweizer Freien Szene, die um die Jahrtausendwende so lebendig und innovativ war wie lange nicht mehr und half, die Grenzen zwischen institutionalisiertem und freiem Theater zu verwischen. Ihr Schreiben für die Bühne geschah zunächst in der Doppelfunktion als Autor-Regisseur bzw. Autor-Dramaturg und entwickelte sich aus der Zusammenarbeit mit ihren „Theaterfamilien" heraus. Die Vielfalt in der heutigen Deutschschweizer Dramatikerszene ist tatsächlich augenfällig. Sechsunddreißig Dramatiker werden in diesem Buch vorgestellt, die Porträts arrivierter Autoren stehen neben den Stückanalysen jüngerer Autoren, die gerade begonnen haben, ihre eigenen Wege zu gehen. Eine eindeutige politische Stellungnahme machte den ältesten unter ihnen, Rolf Hochhuth, mit einem Schlag weltberühmt, aber auch gerade die jüngere Generation sucht wieder vermehrt nach politischer Verbindlichkeit, etwa die Autorengruppe „pol.theater" oder die jüngste von allen, Darja Stocker, deren Stücke von der Sehnsucht nach einer gerechteren Welt zeugen. Da sind die Stücke von Guy Krneta, Andri Beyeler, Paul Steinmann oder Beat Sterchi, die der Mundart zu einer neuen Bedeutung als Kunstform jenseits des traditionellen Volkstheaters verhelfen und übersetzt auch von deutschen Theatern gespielt werden. Schweizerdeutsch in seinen verschiedensten Dialekten ist auch die Sprache der in der Schweiz sehr populären und als Kunstform ernst zu nehmenden Slam-Poetry. Unter den Slammern und Sprachperformerinnen, die der Schweizer Mundart zu einer nie geahnten Schnelligkeit und Härte verhelfen, befinden sich einige der hier Porträtierten wie Stefanie Grob, Susanne Zahnd oder Michael Stauffer. So unterschiedlich die Auseinandersetzung der Einzelnen mit der Sprache ist, so unterschiedlich gehen sie mit Erzählstrukturen und Formen um, was möglicherweise damit zusammenhängt, dass die meisten sich nicht auf das Genre Dramatik beschränken. So war Sabine Chen-Win Wanq beispielsweise als Lyrikerin bekannt, bevor sie sich dem Schreiben fürs Theater zuwandte. Andere haben auch als Prosaautoren reüssiert, man denke an Peter Stamm, Christina Viragh, Hansjörg Schneider oder Sibylle Berg. Und weil die Theaterlandschaft nicht von amtlichen Ausweisen oder nationalen Grenzen begrenzt wird, sind selbstverständlich Schweizer Autoren wie Philipp Engelmann oder Matthias Zschokke, die seit langem im Ausland leben, in diesem Buch aufgenommen. Ebenso selbstverständlich haben wir Autoren "vereinnahmt", die keineswegs Schweizer sind, aber mit einem Wohnsitz ihre Lebens- und Arbeitszusammenhänge in diesem Land geschaffen haben. Autoren wie Sibylle Berg, Händl Klaus und Rolf Hochhuth sind mit der hiesigen Literaturszene vernetzt und prägen diese mit.
Mit den porträtierten Dramatikern und Dramatikerinnen treffen sich in diesem Buch unterschiedliche Generationen, Schreibstrategien und Stoffe. Unterschiedliche Hintergründe und Herangehensweisen haben auch die Theaterkritikerinnen und -wissenschaftler, Dramaturginnen und Theaterleiter, die die Porträts geschrieben haben.
Veronika Sellier | Migros-Kulturprozent Schweiz