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kirschs kontexte: Wohin mit den Armen?
von Sebastian Kirsch
Erschienen in: Theater der Zeit: Aleksandar Denic: Realität des Absurden – Bühnen für Castorf in Berlin und Bayreuth (06/2013)
Seit Jahren wird darüber gerätselt, was die Raute bedeuten mag, die Angela Merkel bei öffentlichen Auftritten mit ihren Händen zu bilden pflegt, indem sie die Fingerspitzen in Bauchnabelhöhe zusammenführt. Diese „Merkelraute“, zweifellos eins jener Zeichengebilde, wie sie Roland Barthes einst als Mythen des Alltags beschrieb, hat es nicht nur auf Wahlplakate geschafft; sie wird inzwischen sogar von Politikern anderer Staaten imitiert. Manche Zeichendeuter beziehen nun die geometrische Symmetrie und euklidische Schönheit der Raute auf ein mögliches Wissenschaftsideal der Physikerin Merkel – was freilich nichts Gutes erahnen lässt: Schließlich hat sich der Hang zur geometrischen Ordnung, wo er in die Politik übertragen wurde, immer als fatal erwiesen. Ikonografische Lesarten wiederum sehen in der Geste den Versuch Merkels, sich am „phallischen“ Ort des Kanzlers, einem Ort, der jeden, der ihn besetzt, ungeachtet seines biologischen Geschlechts zum Mann macht, wieder zu verweiblichen. Diese Deutung der Raute als weibliches Geschlecht kann sich etwa auf Büchners „Dantons Tod“ berufen, wo ja eine kartenspielende Dame „ihrem Manne immer das coeur und anderen Leuten das carreau“ hindreht.
Merkel selbst hat Anfang Mai auf der Bühne des Maxim Gorki Theaters, wo sie von zwei Brigitte-Redakteurinnen befragt wurde, freilich eine andere Erklärung gegeben: Die Geste helfe ihr, den Oberkörper...