50 Jahre nach dem Putsch in Chile
Wie hat sich die Beziehung zwischen Erinnern und Theater nach der Diktatur entwickelt?
von Ivan Insunza Fernández und Sebastián Pérez Rouliez
Assoziationen: Wissenschaft Dossier: Chile
In diesem Text setzen wir uns mit der chilenischen Theaterlandschaft nach der Diktatur und nicht mit der der Transition auseinander, da wir andernfalls eine theoretische und politische Einordnung vornehmen müssten, die wir an dieser Stelle nicht leisten können. Dennoch sollten wir die Transition im Hinterkopf behalten.
Das postdiktatorische Theater spielte eine große Rolle bei der offen geführten symbolträchtigen Auseinandersetzung der frühen Neunzigerjahre, in der es um nichts Geringeres ging als um die nationale Identität, die nun in einem demokratischen Kontext verhandelt wurde. Gleichzeitig versuchte man, die Strahlkraft jenes Regenbogens abzuschätzen, der die wartende Freude ankündigte.[1] Zu jener Zeit nahmen sowohl der Anspruch volksnah zu sein als auch der Anspruch die intellektuelle Hegemonie innezuhaben gleich viel Raum ein und entfachten die Auseinandersetzungen. Während der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre, zur Zeit des großen wirtschaftlichen Booms in Chile, kam es zu einer kulturellen Öffnung. Infolge dieser Öffnung und weiterer lokaler und globaler Prozesse am Vorabend des 21. Jahrhunderts wurden neue Formen des Theaters ergründet und ausprobiert. Von diesem Zeitpunkt an entstanden die sogenannten politischen Bühnen[2].
Erinnerungskultur und Theater
Im Rahmen der gesellschaftlichen Veränderungen und angesichts der Lage in den ersten Jahren der Demokratie während der angespannten Amtszeit von Präsident Patricio Aylwin widmete man sich dem Erinnern zwanzig Jahre nach dem Putsch (1993) so gut wie gar nicht. Mit dem dreißigsten Gedenktag (2003) hingegen etablierte sich endgültig eine Erinnerungskultur, die laut dem Historiker Julio Pinto seit der Festnahme von Augusto Pinochet im Jahr 1998 immer mehr in Erscheinung trat und die zumindest in der ersten Hälfte der 2000er Jahre in akademischen, intellektuellen und künstlerischen Kreisen ein zentrales Thema bleiben sollte. Aber erst mit dem vierzigsten Gedenktag im Jahr 2013 ist eine enge Beziehung zwischen dem Erinnern und dem Theater zu erkennen. Zusätzlich hatte zuvor das Gedenken an zweihundert Jahre Unabhängigkeit (2010) in der chilenischen Theaterlandschaft den Trend ausgelöst, herkömmliche historische Erzählungen zu hinterfragen. Der vierzigste Gedenktag des Putsches greift dann mit Nachdruck zwei Dinge auf: zum einen die Figur Salvador Allendes, Ikone und Mythos der chilenischen Linken, die symbolisch-historisch aufgeladen ist, was paradoxerweise die aktuelle politisch-theatrale Vorstellungskraft erstarren lässt. Zum anderen, wenn auch zunächst nur vorsichtig, die Frage nach einer neuen Verfassung. Und auch wenn mit gewisser Skepsis betrachtet werden kann, dass jene Veränderungen in der Theaterlandschaft (das Streben nach Konsens und Versöhnung) zum größten Teil von öffentlichen Institutionen angestoßen worden sind, so ist es gleichzeitig richtig, dass das Theater zur symbolischen Aufarbeitung von Themen beigetragen hat, über die manchmal noch heute ungern gesprochen wird. Sicherlich sind es aus historischer Sicht „nur“ zehn Jahre, die vergangen sind, aber das Gefühl der Ermüdung, das sich im Rahmen eines gewissen Verständnisses der Dinge eingestellt hat, das nach bestimmten Vorgehensweisen und theatralen Narrativen verlangt, ist überwältigend.
Aktuell stellt sich uns die Frage, wie die Produktion und Dokumentation bestimmter Symboliken während der vergangenen fünfzig Jahre dem Theater heute eine gewisse Relevanz im Kontext des Erinnerns an den Putsch verleihen kann, wo es doch gleichzeitig der Fall ist, dass das Theater seit einiger Zeit – und noch mehr seit dem Scheitern der Volksabstimmung über den Verfassungsentwurf am 4. September 2022 und der hohen Zahl an gewählten rechtsextremen Mitgliedern des Verfassungsrates, der im neuen Verfassungsgebungsprozess von 2023 über die Vorschläge einer Expertenkommission abstimmen wird – viel eher durch Kraftlosigkeit auffällt, die eng mit den Schwierigkeiten zusammenhängt, die die Linke in den politischen Auseinandersetzungen der letzten Zeit erfahren hat.
Erinnern und Scheitern 50 Jahre nach dem Putsch
Dem nun fünfzig Jahre zurückliegenden Putsch in Chile gegenüber besteht weltweit wenig politisches Bewusstsein. Das Gefühl des Scheiterns und der Niederlage hat Skepsis, Desillusionierung, Politikverdrossenheit, Hoffnungslosigkeit und Zynismus genährt. Und vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass die ästhetischen und politischen Vorstellungswelten der Linken und des Theaters so kraftlos wirken. Es handelt sich um eine letzten Endes rückwärtsgerichtete Kraftlosigkeit, die manchmal so scheinen mag, als könne sie nicht mehr bieten als die Radikalisierung bereits bestehender Ideen, Ansätze und Positionen.
Ein Beispiel dieser „Radikalisierung“ ist die Interpretation, dass Macht in einem genealogischen Zusammenhang mit Dominanz steht. Tatsächlich gibt es im Theater ebenso wie in bestimmten linken Kreisen, die jegliche Interventionen vonseiten der Regierung und der Behörden ablehnen, seit einigen Jahren diese Positionierung „gegen alles“. Letzten Endes handelt es sich um einen Anti-Establishment-Standpunkt, der dringend überprüft werden sollte.
Der Anti-Establishment-Standpunkt
Um die politische Landschaft in Chile zu verstehen – und auf internationaler Ebene ist es nicht viel anders –, hilft es, sich zu vergegenwärtigen, dass derzeit überall in der Gesellschaft Stimmungen gegen die Machthabenden im Allgemeinen zu finden sind. Vielleicht ist das der Knackpunkt bei den Protesten in Chile. Es sind Proteste gegen den Status Quo: gegen das bestehende Sozial-, Wirtschafts-, Politik- und Rechtssystem. Jahre der maßlosen wirtschaftlichen Herausforderungen und der übertriebenen Anforderungen in der Arbeitswelt, des Prekariats, der Diskriminierung bestimmter Menschen sowie der zunehmenden Korruption, der Straflosigkeit und des Unrechts führten dazu, dass 2019 massive Unruhen in Chile ausbrachen, die stark antielitär geprägt waren und sich gegen das Establishment richteten. Die neuen politischen Kräfte, die in den letzten Jahren entstanden sind, weisen in genau diese Richtung: Sie erklären sich als unabhängig von den traditionellen politischen Parteien.
Was das Theater betrifft, so kann dort den historischen Dispositionen nachgespürt und die Gründe für die Unruhen aufgezeigt werden, indem man verschiedene Typen von Subjektivitäten vorführt, die durch das System belastet, unterdrückt oder marginalisiert werden. In diesem Sinne lässt sich feststellen, dass sich das Theater mit seiner Zeit beschäftigt. Wie bereits erwähnt, müssen wir aber festhalten, dass genau das in der heutigen Zeit eine doppelte Falle darstellt: Einerseits ist das Theater an die Geschehnisse der Gegenwart gebunden, anderseits scheint es in einem Anti-Establishment-Denken gefangen zu sein, so als wäre jedes Theaterstück ein Votum gegen alles, ohne dabei definieren zu können, was das Theater selbst sein möchte, was es sucht, welche Ideen es hat.
Typisch für den Anti-Establishment-Standpunkt ist eine gewisse ironische Haltung. Heute ist es normal, mit Stücken konfrontiert zu werden, die wieder auf Parodie und Satire zurückgreifen, und, wie der Kulturwissenschaftler Mark Fisher sagte, die ältesten Parolen mit dem Optimismus des ersten Mals wiederholen. Es stimmt, dass das respektlose Auftreten gewisser Linker im Kulturbereich die konservativsten Gruppierungen vor einigen Jahrzehnten im Kreis hat drehen lassen. Trotzdem ist es offensichtlich, dass dieses Verhalten heute bloß ein Ausdruck für das Unvermögen ist, etwas ästhetisch und diskursiv zu auszuarbeiten. Weit entfernt von ihrer früheren Wirkungskraft hat die Ironie oft zur Folge, dass alles in gut und schlecht, Opfer und Täter, ohne Brüche und Grauzonen eingeteilt wird. Angesichts so eines Theaters wirkt alles ganz einfach, ganz eindeutig, heruntergebrochen. Dabei handelt es sich hier ohne Zweifel um ein übertriebenes Vertrauen in das Opponieren gegen die Macht. Letztendlich liegt das Problem im überwiegend moralisierenden, aber auch einem Verhör ähnelnden Ton, der schon bald als Aufhänger für rechtsextreme Gruppierungen dient, die schnell dabei sind, die Auferlegung einer „progressiven“ Norm anzuklagen, die „nicht auf die wirklichen Bedürfnisse der Menschen eingeht“, und im gleichen Zug an den „gesunden Menschenverstand“ appellieren.
Die Frage ist also, was das Theater in diesem Kontext bieten kann, welche Alternativen oder Möglichkeiten das der heutigen Zeit ganz eigene Erinnern bietet – das aus einem so komplexen politischen Moment hervorgegangen ist –, um eine Gegenwart zu denken, die nicht nur erinnert und beklagt, was nicht geschehen ist, oder sich auf Zukunftsvisionen beschränkt, in denen der Untergang heraufbeschworen wird.
Immer wieder ist zu hören, dass Erinnerung mehr ist als ein Stück Vergangenheit in der Gegenwart. Hoffentlich sind wir in unserer Zeit, ein halbes Jahrhundert nach dem Putsch, fähig, neue Bilder zu erschaffen, die sich mit diesem bestimmten Wendepunkt in der Geschichte auf intelligentere Weise auseinandersetzen.
Übersetzung: Luisa Donnerberg
[1] Anspielung auf die No-Kampagne 1988 in Chile, deren Logo ein Regenbogen war und die mit dem Slogan „Chile, la alegría ya viene“ (Chile, die Freude erwartet uns!) dafür warb, bei dem Referendum über eine weitere Amtszeit Augusto Pinnochets für ‚Nein‘ zu stimmen. (Anm. d. Über.)
[2] Vgl. M. Barría Jara/I. Insunza, Escenas políticas. Teatro entre revueltas 2006-2019. Santiago de Chile: Oxímoron, 2023.
Erschienen am 9.9.2023