Vorwort
Erschienen in: Recherchen 31: Brecht und der Sport – Brecht-Tage 2005 (01/2006)
Assoziationen: Theatergeschichte
Seit 28 Jahren, seit 1978, finden alljährlich im Februar zu Brechts Geburtstag in Berlin die Brecht-Tage statt. Was wurde auf diesen traditionsreichen Kolloquien nicht alles schon erörtert: Brecht und der Marxismus, Brecht und der Kapitalismus, der Sozialismus, der Faschismus, Brecht und die Wissenschaften, die Medien, der Film, Brecht und der Krieg, der Glaube, die Moral, Brecht und die Vernunft. Doch noch nie wurde der Sport, das schlechthin Unvernünftige, zum Thema, der Sport, von dem Brecht 1928 schrieb: »Ich bin für den Sport, weil und solange er riskant (ungesund), unkultiviert (also nicht gesellschaftsfähig) und Selbstzweck ist.«
Sport ist ein Phänomen, das ohne Ideologie und ohne Utopie auskommt. Sport gedeiht in allen Gesellschaftsordnungen, in der Sklaverei ebenso wie im Sozialismus, in der Demokratie ebenso wie in der Tyrannei. Vielleicht lässt sich darum an ihm so vorzüglich die menschliche Natur studieren.
Vom Sport kann jeder lernen, auch, wer nichts für ihn übrig hat. Er kann zum Beispiel lernen, ein guter Verlierer zu sein. Aber nicht das war es, was Brecht daran interessierte. Im Kampf mit dem Theater seiner Zeit konnte er Niederlagen nicht gebrauchen. Am Sport faszinierten ihn die Technik und Taktik des Siegens und was er bot als Ereignis und Erlebnis: sein Schauwert nämlich und das Amüsement, das er dem großen Publikum verschaffte. Sport war ihm ein Geschehen, wo der Agon, wo Wettstreit und kämpferischer Einsatz aufleuchten; und wo sie aufleuchten, kann man etwas erkennen: am Menschen, an seiner Situation, seinem Rang.
Die Rede ist vom jungen Brecht, dem vorpädagogischen, dem vorkommunistischen, dessen Erkenntnisinteresse noch nicht auf Klassenkampf und historisches Eingreifen, auf revolutionäre Erziehung und Neubau der Welt gerichtet war. Die Rede ist nicht vom Brecht der epischen, nicht-aristotelischen Dramaturgie, der die Einfühlung aus der Kunst verbannt hat. Wir sind beim affektfreudigen, vitalistischen Brecht, den am zeitgenössischen Theater vor allem dessen Langweiligkeit aufbrachte. Es ärgerte ihn, dass dieses Theater außerstande war, Kontakt zu den Zuschauern herzustellen. Hier wollte er ansetzen. Deshalb sprach er provozierend lässig vom »Theater als sportlicher Anstalt«, und deshalb forderte er: »Man muß ins Theater gehen wie zu einem Sportfest.« Vom Boxpublikum lernte er, zu welcher Wachheit, Leidenschaft und Begeisterung, zu welcher Identifikation und Parteinahme, zu welcher Urteilskraft und Gerechtigkeit die Menge imstande ist.
Und auch an der Sportidee selbst, am Wettstreit und seiner Unberechenbarkeit, war einiges abzulesen: dass es nämlich überall auf der Welt um Kampf geht, um Rivalität und Konfrontation. Und dass es wichtig ist, nicht zu wissen, wer am Ende siegt oder verliert. Nur so ist Spannung, ist gute Unterhaltung, garantiert. Das ist der Punkt, an dem Sport, Theater und Kriminalroman eins werden. Alle drei sind Medien zur Affekterregung und Affektentladung. Höhere Zwecke sind gar nicht gefragt.
Doch nicht nur über Brecht wäre zu diskutieren. Es geht um die heutige Ästhetik, den Zustand des derzeitigen Theaters, das Lebensgefühl unserer Epoche. Ein Diskurs über den Sport, über seinen Modellcharakter, seine Archaik und Modernität führt hoffentlich nicht nur zu mehr Einsicht in die Wirkungsweise der Kunst, sondern auch zu mehr Wissen über die Gesellschaft und zu einem realistischeren Menschenbild.