Auftritt
Wiesbaden: Als wir eines Morgens in der Pandemie erwachten
Hessisches Staatstheater Wiesbaden: „Wuhan – Die Verwandlung“ von Clemens Bechtel und Jan Neumann. Regie: Clemens Bechtel, Bühne: Till Kuhnert
von Björn Hayer
Erschienen in: Theater der Zeit: Volksbühne Neu (11/2021)
Assoziationen: Hessisches Staatstheater Wiesbaden
Viele dürften im vergangenen Jahr einen ominösen Gregor-Samsa-Moment gespürt haben. Man wachte auf und konnte nicht fassen, in welcher Welt man sich befand. Beklemmend und surreal erschien dieser Film, dessen Arrangeur noch immer an den Strippen unseres Lebens zieht: Corona. Es liegt daher nahe, Franz Kafka, diesen Großmeister für Panik, Furcht und Wahn, zu konsultieren, um die Atmosphäre in der Pandemie zu erfassen. Wie formidabel dieser Brückenschlag gelingt, lässt sich derzeit an der Uraufführung „Wuhan – Die Verwandlung“ am Hessischen Staatstheater Wiesbaden studieren.
Es beginnt gruselig: Vor uns auf einem Bett windet sich eine geschlechtslos anmutende, zierliche Person (Ipek Özgen) mit Glatze, während wir einer musikalischen Mixtur aus schauriger Geräuschkulisse und Beatmungsmaschine beiwohnen. Dazu spricht eine Erzählerfigur hinter einer Plexiglasscheibe die ersten Sätze aus der berühmten Erzählung „Die Verwandlung“ des Prager Autors. Nur scheint sich hierbei, wie der weitere Verlauf des Abends nahelegt, nicht allein eine Verwandlung eines Menschen in einen Käfer, sondern mithin einen Virusträger zu ereignen. Immer wieder wird Gregor Samsa gleich einem Geist, der bald schon nur noch von einer Computerstimme überlagertes Kauderwelsch zum Publikum zu sprechen vermag, im weißen Bettlaken über die Bühne schlurfen – vor allem dort, wo Covid-19 seine ersten Opfer erfasst.
Passend zu dem aus verschiebbaren, kubischen Räumen sich zusammensetzenden Bühnenbild (Kulisse: Till Kuhnert) erzählen Clemens Bechtel (Regie) und Jan Neumann mehrere Geschichten parallel. Wir treffen auf ein durch das Virus aus allen Banden des Daseins geworfenes Ehepaar (Michael Birnbaum und Anne Lebinsky). Während er ohnmächtig zu Hause die Quarantäne hinter sich bringen muss, befindet sich seine infizierte Frau indessen auf der Intensivstation. Andernorts ist man noch dabei, die immunologische Gesellschaft umzusetzen. Zum Beispiel in einer 3er-WG, deren Bewohner sich in harten Diskussionen um Normrigorismus und Freiheitsliebe voneinander entfremden. Zu den wohl stärksten Charakteren des Abends zählt Steffi, kraftvoll gespielt von Lena Hilsdorf, die früh noch die ganze Melancholie sprengt und im Lockdown über den Zuwachs an Freizeit jubelt, bevor sie später selbst in die Depression abgleitet. Tiefe Angst bemächtigt sich ihrer. In einem bewegenden Monolog spricht sie von der „Wohnung, mein Sarg“. Sie sei „Rapunzel ohne Zopf“, mit Maske „unsichtbar in der totalen Sichtbarkeit, aber allein“. Um ihrer Einsamkeit zu entfliehen, packt sie verzweifelt den gerade auf der Bühne befindlichen Samsa, klammert sich an ihm fest, bis ihr gewahr wird: Das ist der Tod, das Virus. Rasch stürzt sie zum Desinfektionsspender, reibt sich überall mit dem Mittel ein und kauert sich unter das Waschbecken.
Wie alle anderen Personen des Stücks bleibt auch sie isoliert. Häufig stehen sie weit auseinander oder werden durch das Glas getrennt. Dass sich all diese heterogenen Wirklichkeiten überlappen, zeigt sich in virtuoser Genauigkeit noch im feinsten Detail der Kulisse. Denn sowohl die braunen Wände als auch der Boden tragen ein Netzmuster, erinnernd an sich überlagernde Fäden. Enge, Sehnsucht und Aggression über die Hoffnungslosigkeit bilden ein emotionales Ineinander, das in Kafkas Text seinen Anfang wie auch sein Ende nimmt. Denn wofür steht der in Wiesbaden zuletzt jämmerlich durch ein Kakerlakengift vor die Hunde gehende Samsa? Ihn nur für den Erreger zu halten, griffe zu kurz. Vielmehr repräsentiert er das Fremde schlechthin, das sich wie der oftmals bedrohliche Klanghintergrund mitten in die heimischen Gefilde der Protagonisten schleicht. Mit ihm steht alles zur Disposition. „Wie aber, wenn jetzt alle Ruhe, aller Wohlstand ein Ende […] haben sollte?“, lautet die Kafka entlehnte Frage. „Wuhan – Die Verwandlung“ ist zum Glück kein banales Corona-Stück, es rüttelt energievoll an den Festen, auf denen das ökonomische und gesellschaftliche Selbstverständnis gründet. //