Theater der Zeit

I. EINLEITUNG

2. Ariadne und der Mythos

von Charlotte Wegen

Erschienen in: Recherchen 163: Der Faden der Ariadne und das Netz von Mahagonny im Spiegel von Mythos und Religion – Eine Untersuchung der Opernwerke Ariadne auf Naxos und Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny (05/2022)

Anzeige

Anzeige

In ihrer Auseinandersetzung mit dem Ariadne-Topos muss die vor- liegende Arbeit jeden Versuch suspendieren, die Mannigfaltigkeit der bestehenden Mythentheorien wissenschaftlich diskutieren zu wollen.22 Es kann daher für die Zwecke dieser Untersuchung nur ausreichen, den Mythos in seiner ganzen begrifflichen Polyvalenz anzuerkennen und im selben Zuge einer definitorischen Eingrenzung zu unterziehen, die zugleich eine Form einer Mythostheorie manifestiert.

Wenn hier also vom Mythos die Rede ist, so ist damit in erster Linie eine orale Erzählüberlieferung in literarischer Gestaltung gemeint, die mit ihrer wiederkehrenden Urzeitschilderung die Funktion einnimmt, die chaotische Welt zu erläutern und zu begründen: »Er [der Mythos, Anm. C.W.] macht nicht nur gegenwärtige Ordnungen verständlich und legitimiert sie über ihre göttliche Einsetzung, sondern geht auf älteste Ursprünge und Schöpfungsprozesse zurück, von denen her er das Sein und die Ordnung der Welt überhaupt begreift.«23

Mythos als umfassende Weltdeutung sei demnach die Bemühung um die menschliche Orientierung in der Welt, fungiere als Wirklichkeitsaneignung und stelle zugleich Daseinsbewältigung dar.24 Sein narrativer Gehalt mitsamt seiner a-logischen Struktur sowie seinen irrationalen Elementen deutet dabei immer auch auf ein Anderes hin, dessen numinose Bezüge der Verstand in den Ursprung einer transzendentalen Wahrheit verortet. Dass das Begreifen dieser Wahrheit in allen mythomorphen Formen ihres Auftretens eine kosmogonische Bemühung bleibt, ist »Arbeit am Mythos«25, »Arbeit des Logos an der uns bedrängenden Lebenswirklichkeit«26 und damit Auseinandersetzung mit dem »Absolutismus der Wirklichkeit.«27 In dieser Sichtweise wird dem Mythos eine anthropologische Komponente zugeschrieben, die die existenziellen Erfahrungen als Phänomene ebendieser absolutistischen Faktizität in Worte fasst (fassen im doppelten Sinne) und so dem Unnennbaren einen Namen gibt. In einem eher modernen Vokabular könnte man von einer Äußerung und Darstellung des Prozesses sprechen, in dem sich der Mensch die Welt aneignet: Das Gegenwärtig-Ungegenwärtige wird zum Gegenstand einer »sich immer wieder selbst antreibenden Depotenzierung dessen, was noch hinter dem Mythos als das selbst Unmythische, weil Bildlose und Gesichtslose ebenso wie Wortlose steht: das Unheimliche, Unvertraute – Wirklichkeit des Absolutismus «.28 Dieser Aneignungsprozess indes bleibt sui generis lückenhaft; das Andere, das der Mythos seiner Grundstruktur nach behandelt, will sich allerdings nicht ausschließlich als Numen verstanden wissen: Wenngleich Mythologemen eine transzendentale Dimension innewohnt, so verweist das Andere zugleich auf eine Fremdheit, die nicht nur im Außen des Ich, im Über des Irdischen zu suchen ist, sondern auch im Eigenen offenbar wird.29 Und obwohl die Erwähnung jener Fremdheit auf Überlegungen einer zivilisationstheoretischen Kulturkritik rekurriert, welche erst im späteren Verlauf zum Tragen kommen sollen, so sei doch auf die ihnen zugrunde liegende Absicht verwiesen, im Mythos bereits aufklärerische Momente erblicken zu wollen. In einer solchen Betrachtung ist die Bedeutung des Mythos nicht allein in seiner sozialintegrativen Funktion der Sinn- und Einheitsstiftung entfaltet, stattdessen spricht sie ihm eine zivilisationstheoretische Größe zu, die sich in der Philosophiegeschichte bei Friedrich Nietzsche und in ihrem weiteren Verlauf bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno dunkel leuchtend vertreten sehen darf. Mythos ist hier nicht bloß ein Werkzeug, um die Welt zu deuten, vielmehr wird Weltdeutung als ein Akt der Naturbeherrschung und damit als ein Instrumentarium der menschlichen Weltbearbeitung verstanden, die immer auch aufklärerische Strukturen enthält.30

Die philosophische Ausdeutung des Mythos als solchem misst seinem Begriff eine dialektische Komponente bei, in der das mythische wie auch das aufklärerische Moment vermittelt sind: »Schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück «31 – mit diesem Theorem ist der ganze Brandherd um die Herrschaftsverhältnisse in der Welt entfacht. Jene Theorie steht an dieser Stelle nicht nur, um das spezifische, hiermit explizierte Mythosverständnis für diese Arbeit zu beschreiben, sondern leitet auch zur Kulturproduktion einer spätkapitalistischen Gesellschaft über, wie sie nur aus dem Mythos als erstes Herrschaftsprinzip des Menschen über die äußere sowie innere Natur und Praxis der Aufklärung entstehen konnte.32

22 Somit sei an dieser Stelle lediglich auf die einschlägige Literatur der Mythenforschung hingewiesen, zu deren Hauptvertreter insbesondere Ernst Cassirer, Claude Lévi-Strauss, Karl Kerényi, Jean-Pierre Vernant, Mircea Eliade und Roland Barthes, aber auch Emil Angehrn und nicht zuletzt Hans Blumenberg zu zählen sind. Allesamt sind sie bemüht, dem Begriff des Mythos eine unterscheidende Kraft zu geben und seine Geltung ›ins rechte Licht zu rücken‹. Folgt man einer Herangehensweise, die den Mythos nicht von außerhalb mit einer Theorie bedeckt, so könnte man sich an Walter F. Otto orientieren, der die Bedeutung des ›Mythos‹ in seiner etymologischen Herkunft sucht. So ist das Wort nach Otto ein »unmittelbares Zeugnis dessen, was war, ist und sein wird, eine Selbstoffenbarung des Seins in dem altehrwürdigen Sinn, der zwischen Wort und Sein nicht unterscheidet. Mythos ist also das wahre Wort, nicht im Sinne des richtig Gedachten, Beweiskräftigen, sondern des als Tatsache Gegebenen, Offenbargewordenen, Geheiligten, und so unterschieden von jeder anderen Aussage.« Otto, Walter F.: Das Wort der Antike, hrsg. v. Kurt von Fritz, Stuttgart 1962, S. 358.

23 Angehrn, Emil: Die Überwindung des Chaos. Zur Philosophie des Mythos. Frankfurt/ M. 1996, S. 26 f. Siehe auch Eliade, Mircea: Mythos und Wirklichkeit, aus dem Franz. von Eva Moldenhauer, Frankfurt/M. 1988, S. 27 ff.
Als Kritikpunkt ließe sich freilich anbringen, dass die Mythostheorie hier mehr oder weniger als historische (geistesgeschichtliche) Verortung epistemischer Konstrukte abendländischen Philosophierens betrachtet wird: »Der Mythos als ›Vorgeschichte der Metaphysik‹, als ›archaische Metaphysik‹ wird reduziert, zum einen auf den altgriechischen Mythos in seiner von Hesiod, Homer und den Tragikern literarisierten Form, zum anderen auf seine vermeintliche oder teilweise tatsächliche Rationalitätsleistung, die retrospektiv vor dem Hintergrund späterer philosophischer Entwicklungen interpretiert wird. Zudem wird er als Beleg-Material für die seit Freud und in weiterentwickelter Form seit Foucault bzw. dem Poststrukturalismus betriebene Forschung nach Verdrängungen der abendländischen Zivilisationsgeschichte als Ideen- oder Metaphysikgeschichte benutzt: Diese dafür grundlegende Gedankenfigur verwendet die kulturgeschichtliche Entwicklung ›vom Mythos zum Logos‹ in der altgriechischen und den folgenden Epochen als Beweis für die Verdrängung und Ausgrenzung zentraler Bereiche menschlicher Kultur. Mythostheorie wird dabei zur Kulturkritik an Verabsolutierungen aufklärerischer Denkprinzipien, zur Wissenschafts- und Philosophie-Kritik im Gefolge Adornos und Horkheimers, somit zum Transportinstrument zeitgenössischer Interessen und Ideologien […]«. Gottwald, Herwig: Spuren des Mythos in moderner deutschsprachiger Literatur: theoretische Modelle und Fallstudien, Würzburg 2007, S. 39.

24 Vgl. Angehrn: Die Überwindung des Chaos, S. 27 f. Angehrn streicht in diesem Zusammenhang die Kontinuität und Gemeinsamkeit von Mythos und Philosophie »bei aller Heterogenität« heraus.

25 Siehe hierfür Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos, Frankfurt/M. 1979. Dieser Arbeit mutet nach Blumenberg etwas Prozesshaftes an; ebenso wie der Mythos Wiederholung des Immergleichen markiert, ist auch die Arbeit an ihm wiederkehrend. Die Bewältigungsform, die sie – Distanz zur beklemmenden Lebensrealität einnehmend – schafft, führt zu ihrem Vergessen. Die in Vergessenheit geratenen existenziellen Bedrohlichkeiten aber bilden, gerade eben weil sie vergessen sind, die Bedingungen für die Möglichkeit eines unmittelbaren Aufeinanderprallens mit der absolutistischen Wirklichkeit. In seinen Überlegungen geht Blumenberg von der Überwindung des Mythos als modernem Fortschrittsmythos aus.

26 Angehrn: Die Überwindung des Chaos, S. 28 f.

27 Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 9 f. 28 Ebd., S. 369.

29 Sigmund Freud erkennt im Menschen allen voran seine Triebe, deren Unterdrückung wohl für jede einzelne Stufe der Kulturentwicklung konstitutiv gewesen sein muss und zwar ungeachtet dessen, welches Weltbild – ob mythisch, religiös oder rational motiviert – zu diesem Zeitpunkt vorgeherrscht haben mag. »Parallel zur fortschreitenden Weltbeherrschung des Menschen geht eine Entwicklung seiner Weltanschauung, welche sich immer mehr von dem ursprünglichen Allmachtsglauben abwendet, und von der animistischen Phase durch die religiöse zur wissenschaftlichen ansteigt. In diesen Zusammenhang fügen sich Mythus, Religion und Sittlichkeit als Versuche, sich für die mangelnde Wunschbefriedigung Entschädigung zu schaffen.« Freud, Sigmund: [Das Interesse an der Psychoanalyse], in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. VIII, hrsg. v. Anna Freud, E. Bibring, W. Hoffer, E. Kris, O. Isakower, London 1948, S. 390 – 420, hier: S. 416. Die damit einhergehende Verlagerung der eigenen Triebhaftigkeit in ein Äußeres macht den Menschen seiner Selbst ungewiss, fremd, bedrohlich. Jene mangelnde Wunschbefriedigung – die Negation des Tierischen im Menschen – führt deshalb bei Nietzsche direkt in eine pathogene Zivilisationsgeschichte, an deren Ende ein krankes Tier steht. So heißt es bei Nietzsche über den Menschen: »Denn der Mensch ist kränker, unsicherer, wechselnder, unfestgestellter als irgend ein Thier sonst, daran ist kein Zweifel, – er ist das kranke Thier: woher kommt das? Sicherlich hat er auch mehr gewagt, geneuert, getrotzt, das Schicksal herausgefordert als alle übrigen Thiere zusammen genommen: er, der grosse Experimentator mit sich, der Unbefriedigte, Ungesättigte, der um die letzte Herrschaft mit Thier, Natur und Göttern ringt […].«Nietzsche, Friedrich: [Zur Genealogie der Moral], in: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 5, hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/New York 2016, S. 367 (im Folgenden mit Sigle KSA plus Band und Seitenzahl angegeben).

30 Vgl. Fischer, Karsten: »Verwilderte Selbsterhaltung«. Zivilisationstheoretische Kulturkritik bei Nietzsche, Freud, Weber und Adorno (= Politische Ideen Bd. 10), Berlin 1999, S. 30. Wolfgang Lange hält fest: »Weit entfernt davon, das nur phantastische Erzeugnis einer primitiven Menschheit zu sein, liegt im Mythos so ein Stück Daseinsbewältigung, mithin Aufklärung. Durch den menschlichen Fabuliertrieb werden die Mythen wie ein feingewobenes, traumartiges Netz gesponnen, das, über die Dinge gespannt, zwar nicht deren restlose Unterwerfung garantiert, aber ein Mittel an die Hand gibt, mit der Natur und den darin waltenden Mächten zu verkehren.« Lange, Wolfgang: »Tod ist bei Göttern nur ein Vorurteil. Zum Komplex des Mythos bei Nietzsche«, in: Bohrer, Karl Heinz (Hrsg.): Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion, Frankfurt/M. 1983, S. 111 – 137, hier: S 117.

31 Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/M. 2013, S. 6 (im Folgenden mit Sigle DdA plus Seitenzahl angegeben).

32 Der Rückfall in Mythologie manifestiert den Rückschritt der Menschheit und damit einhergehend das Scheitern jener Aufklärung, die eigentlich menschlichen Fortschritt versprach. Nietzsche drückt den Gedanken des Rückgangs folgendermaßen aus: »Gesetzt, dass es wahr wäre, was jetzt jedenfalls als ›Wahrheit‹ geglaubt wird, dass es eben der Sinn aller Cultur sei, aus dem Raubtiere ›Mensch‹ ein zahmes und civilisirtes Thier, ein Hausthier herauszuzüchten, so müsste man unzweifelhaft all jene Reaktions- und Ressentiments-Instinkte, mit deren Hülfe die vornehmen Geschlechter sammt ihren Idealen schliesslich zu Schanden gemacht und überwältigt worden sind, als die eigentlichen Werkzeuge der Cultur betrachten; womit allerdings noch nicht gesagt wäre, dass deren Träger zugleich auch selber die Cultur darstellten. Vielmehr wäre das Gegenteil nicht nur wahrscheinlich – nein! es ist heute augenscheinlich! Diese Träger der niederdrückenden und vergeltungslüsternen Instinkte, die Nachkommen alles europäischen und nicht europäischen Sklaventhums, aller vorarischen Bevölkerung in Sonderheit – sie stellen den Rückgang der Menschheit dar! Diese ›Werkzeuge der Cultur‹ sind eine Schande des Menschen, und eher ein Verdacht, ein Gegenargument gegen ›Cultur‹ überhaupt!« Nietzsche: KSA 5, S. 276 f.

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Cover Recherchen 167
Cover Rampe vol.2
Cover B. K. Tragelehn
Charly Hübner Buch backstage
Cover XYZ Jahrbuch 2023
Recherchen 162 "WAR SCHÖN. KANN WEG …"
"Scène 23"
"Zwischen Zwingli und Zukunft"
Recherchen 165 "#CoronaTheater"
"Die Passion hinter dem Spiel"
Arbeitsbuch 31 "Circus in flux"
"Passion Play Oberammergau 2022"
Recherchen 163 "Der Faden der Ariadne und das Netz von Mahagonny  im Spiegel von Mythos und Religion"

Anzeige