Das vergessene Vergessen
Erschienen in: Recherchen 123: Brecht lesen (06/2016)
Man hat nicht genügend hervorgehoben, dass wohl für keinen Lyriker das Vergessen in so insistenter Weise das innerste Motiv seines Schreibens war wie für Brecht. Die Omnipräsenz des Themas ist gelegentlich konstatiert, nicht aber in seinem Ausdruckswert verstanden worden: Es zeugt von der Tiefe der Verankerung und der Radikalität der Idee von Prozessualität in Brechts Schreiben. Brecht formuliert einen bedeutsamen Gegensatz zu der von ihm gelegentlich zitierten Schreibweise Baudelaires, der in „Spleen“ programmatisch schreiben konnte: „J’ai plus de souvenirs que si j’avais mille ans“ (Ich habe mehr Erinnerungen, als wäre ich tausend Jahre alt).
Brecht hält dem entgegen, dass die eigentliche auszusprechende Erfahrung gar nicht in erster Linie die Last der allzu vielen Erinnerungen ist – sei diese Last schön oder bedrückend –, sondern ihr Fehlen und Vergehen: das Vergessen.
In den frühen Gedichten tauchen die ersten stringenten Formulierungen dieses Motivs auf, das den Dichter wie kaum ein anderes sein Leben lang beherrscht hat. Zeit wird als Vergessen und Vergessenwerden begriffen, das historisch Fixierte wird durchsichtig auf einen Raum des Wechsels ohne Halt, in dem es keine festen Konturen gibt. Brechts wechselnder und leerer Himmel gleicht dem auf manchen Bildern René Magrittes. Auf einem, Die Zukunft der Standbilder, sieht man...