4.1 Räumliche und figurenperspektivische Involvierung in Paulus Mankers Alma
von Theresa Schütz
Erschienen in: Recherchen 164: Theater der Vereinnahmung – Publikumsinvolvierung im immersiven Theater (05/2022)
Assoziationen: Paulus Manker
Wie in Kapitel 2.3.1 eingeführt, haben wir es bei Mankers Inszenierung von Sobols Polydrama Alma mit der Übertragung eines Simultanstücks in eine komplexe Raumbühne mit parallel bespielbaren szenischen Einzelräumen zu tun. Das Publikum der Aufführungsjahre 2014 bis 2019 ist mit Vorstellungsbesuch eingeladen, sich frei durch die Roigkhalle in Wiener Neustadt mit ihren Ausmaßen von 300 Metern Länge, 70 Metern Breite und 35 Metern Höhe auf einer Gesamtfläche von 21.000 Quadratmetern zu bewegen und selbst zu entscheiden, wann es wie lange wo verweilen will. Die Szenen sind textlich und inszenatorisch festgelegt und geprobt; längere Improvisationen mit den Zuschauer*innen oder gar One-on-Ones sind nicht vorgesehen. Jede*r Darsteller*in hat einen individuellen Parcours von etwa 15 Szenen im Verlauf des Abends zu bespielen und jede*r Zuschauer*in hat die Möglichkeit, den Darsteller*innen/Figuren nach eigenem Belieben zu folgen. Bei einem zweiten Aufführungsbesuch bestände entsprechend die Möglichkeit, anderen Figuren zu folgen. Je nachdem, welcher Figur man als Zuschauer*in durch die Szenen folgt, erlebt man nicht nur völlig verschiedene Szenen und damit auch Aufführungen, sondern wird auch mit gänzlich unterschiedlichen Perspektiven auf den biografischen Stoff um die Komponistin und Künstler-Muse Alma Mahler-Werfel konfrontiert.
Die Einbeziehung des Publikums in die Aufführung und fiktionalisierte Lebenswelt der Alma Mahler-Werfel erfolgt in Mankers Alma – im Gegensatz z. B. zu den Produktionen von SIGNA oder auch 3/Fifths von Scruggs/Woodard – also nicht über Handlungsimpulse oder Gesprächsoptionen, sondern primär als eine mit der Mobilisierung der Zuschauer*innen verbundene räumliche und figurenperspektivische Involvierung. Diese ist rezeptionsästhetisch an das von Manker und Sobol entworfene Konzept vom »Zuschauer als Kamera« geknüpft, welches maßgeblich für die Singularisierung der Aufführungserfahrung verantwortlich ist (vgl. Kap. 3.1.2). Meine These ist, dass sich die singularisierte Aufführungserfahrung zuvorderst dadurch auszeichnet, dass die individuellen ›Voreinstellungen‹ eines jeden Zuschauenden, wie Erwartungshaltungen, Vorwissen, Geschmack, Interesse, körperliches Befinden und affektive Dispositionen in situ für Wahrnehmungs- und Sinnstiftungsprozesse zu entscheidenden, mit-wirkenden Parametern werden und den Zuschauer*innen selbst auch auffällig werden können.
Die Analyse der Publikumsinvolvierung in Alma werde ich im Folgenden entlang meiner beiden Aufführungsbesuche und erinnerten Zuschauerinnen-Erfahrungen entwickeln. Im Rahmen einer polyperspektivischen Szenenanalyse fokussiere ich hier primär die räumliche und Figuren bezogene Involvierung der Zuschauer*innen. Das Polyperspektivische als Formelement von Alma tritt vor allem dort hervor, wo ich meine beiden sehr unterschiedlichen Aufführungserfahrungen vergleichend nebeneinanderstelle. Es wird sich zeigen, dass Zuschauer*innen zunächst maßgeblich vom Raum, der jeweils ausgewählten Figurenperspektive und der Simultaneität der Ereignisse im Modus affektiver und kognitiver Desorientierung involviert werden (4.1.1) und dass Vereinnahmung dort einsetzen kann, wo ich entlang meiner ›Voreinstellungen‹ realisiere, wie die Involvierung in den Mikrokosmos mit einer Einbettung in eine spezifische, patriarchale und von bestimmten Geschlechterverhältnissen dominierte Weltsicht verflochten ist (4.1.2).