Text und Erfahrung
Erschienen in: Recherchen 123: Brecht lesen (06/2016)
„Wo Erfahrung im strikten Sinn obwaltet, treten im Gedächtnis gewisse Inhalte der individuellen Vergangenheit mit solchen der kollektiven in Konjunktion.“1 (Walter Benjamin)
Vom ertrunkenen Mädchen
1
Als sie ertrunken war und hinunterschwamm
Von den Bächen in die größeren Flüsse
Schien der Opal des Himmels sehr wundersam
Als ob er die Leiche begütigen müsse.
2
Tang und Algen hielten sich an ihr ein
So daß sie langsam viel schwerer ward
Kühl die Fische schwammen an ihrem Bein
Pflanzen und Tiere beschwerten noch ihre letzte Fahrt.
3
Und der Himmel ward abends dunkel wie Rauch
Und hielt nachts mit den Sternen das Licht in Schwebe
Aber früh war er hell, daß es auch
Noch für sie Morgen und Abend gebe.
4
Als ihr bleicher Leib im Wasser verfaulet war
Geschah es (sehr langsam), daß Gott sie allmählich vergaß
Erst ihr Gesicht, dann die Hände und ganz zuletzt erst ihr Haar.
Dann ward sie Aas in Flüssen mit vielem Aas.2
1
Das Gedicht zeugt stilistisch bereits von einer großen Sicherheit des jungen Autors. Es ist von bestechend „schöner“ Euphonie – persönlich, unverwechselbar im Duktus und zugleich ein typisches Produkt der Zeit. Die sogenannte Wasserleichenpoesie hat noch immer Konjunktur, die sich besonders...