Theater der Zeit

Vorwort

Über das Vermessen von Theaterlandschaften

von Anna Häusler

Erschienen in: Recherchen 61: Landvermessungen – Theaterlandschaften in Mittel- und Osteuropa (12/2008)

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Der Topos des Landvermessers ist der von K., der in Kafkas Roman DAS SCHLOSS von einem ominösen Grafen Westwest als Landvermesser berufen wird. Dessen Schloss scheint nichts weiter zu sein als ein gigantisches Trugbild, das bei näherem Hinsehen den hehren Vorstellungen von einem Herrschaftssitz nicht standhält und sich mehr und mehr als ein bloß bürokratischer Monsterapparat erweist, an den es keine Annäherung, kein Herankommen gibt. Dieses Bild erklärt sich fast von selbst, haben sich doch die Autorinnen und Autoren dieses Bandes ebenso zu Landvermessern berufen lassen, ihrer Heimatländer zumal, genauer ihrer Theaterlandschaft. Dabei ist eine Topografie der zeitgenössischen Theaterkultur Mittel-, Ost- und Südosteuropas zum Vorschein gekommen, die vielfältiger nicht sein könnte, nichts von den Klischees eines einheitlichen »Ostblocks« übrig lässt und dennoch mit historisch bedingten, ähnlichen Problemen und verwandten Kontexten kämpft. Ost-Urteile werden dabei ebenso ausgehebelt wie West-Phantasien.

»Was der Landvermesser jenseits aller Planung und Erwartung zunächst erblickt, ist nicht ›Landschaft‹, schon gar nicht eine gültige terrestrische Ordnung, sondern Vielheit des Einzelnen, in die Schwebe gebracht als eine sich bis in die Ferne erstreckende Folge von Mustern, die die Felder und Seen, Flüsse und Täler in chromatischer Folge dem Grund einschreiben, eine abstrakte Flächenstrukturierung, die sich ausdehnt bis zu der Linie, die der Horizont zieht.«1 So wundert es auch nicht, wenn sich die so kartographierten Strukturen, Bedingungen und Entwicklungen des mittel-, ost- und südeuropäischen Theaters aus Einzelporträts ihrer herausragendesten Persönlichkeiten, unterschiedlichen Tendenzen und singulären Erscheinungen und Ereignissen zu einem Mosaik aus heterogenen, aber unverkennbaren Details zusammensetzen. Es handelt sich dabei um Landvermessungen ohne den üblichen enzyklopädischen Anspruch. Es ist vielmehr der subjektive Blick ihrer Reporter »von innen«, der eher dazu fähig scheint, unsere Perspektive auf Europa zu lenken, sie zu bereichern und zu erweitern, als ein vermeintlich objektiver Blick »von außen« es gekonnt hätte.

Zuallererst geraten dabei Realitäten in den Blick, die auch fast zwanzig Jahrenach der Wende 1989 noch immer mit den Spuren verbunden sind, die totalitäre Regime, Okkupation, Repressionen, Kriege und Diktaturen hinterlassen haben. Der Beitritt zur Europäischen Union hat manchen dieser Länder einen neuen kulturellen und wirtschaftlichen Rahmen übergestülpt, einen Markstein einer neuen Identität gesetzt, der zugleich eine Rückbesinnung auf nationale Eigenheiten herausfordert, die Positionierung nach außen wie nach innen notwendig macht, die sich auch und besonders auf den Theaterbühnen ausdrückt. Die Auseinandersetzung mit einer neuen »Gemeinschaft« ist dabei immer auch eine mit den eigenen Hoffnungen und Interessen, und diese wiederum eng verbunden mit der Frage nach der eigenen Identität, die bisweilen in der Infragestellung der menschlichen Existenz überhaupt gipfelt. Fragen, die in den jüngsten Inszenierungen und Theaterstücken laut werden.

Doch der Blick aller Theatermacher Mittel-, Ost- und Südosteuropas ist ein doppelter: auf den Westen und auf die Heimat, immer ein zugleich kritischer und poetischer. Seit der Kapitalismus in diesen Ländern unweigerlich Einzug gehalten hat, sehen sich auch die Kulturbetriebe mit ökonomischen Konditionen und marktpolitischen Konsequenzen konfrontiert, denen sie irgendwie begegnen müssen. Erstarrung, Versumpfung und Vetternwirtschaft haben sich nicht selten bis heute in Kulturpolitik und staatlichen Theaterbetrieben festgesetzt, die auf die wirtschaftlich prekäre Lage mit einem konsumorientierten Programm reagieren. Ausnahmen gibt es immer, davon wird hier zu lesen sein, und Erfolge, die sich aus dieser oder trotz dieser ambivalenten Konstellationen ergeben, auch. Doch die auf staatlicher Ebene meist fehlende Auseinandersetzung mit der Rolle des Theaters in der neuen Realität, nicht nur im wirtschaftlichen Sinne, gehört zu den Zeichen einer Zeit, die vom Eisernen Vorhang noch immer stark geprägt, doch alles andereals determiniert ist. Dies zeigt sich umso deutlicher in dem sehr unterschiedlichen Umgang einer jungen Generation von Theatermachern mit dem Erbe der Sowjetzeit und dem radikalen Wechsel zum Kapitalismus. Staatliche Strukturen funktionieren oftmals noch nach veralteten Mustern und subventionieren ein Theater in einer Übergangszeit, in der die Spuren des alten Systems noch präsent sind und die Gesetze der Globalisierung ebenfalls ihren Tribut fordern. Was aus westlicher Sicht nach einer einheitlichen Situation aussehen mag, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen jedoch als absolut heterogen.

Dennoch kann im Großen und Ganzen von einem Ausverkauf der Sinne, der Ideale, Träume und Wünsche gesprochen werden, nicht nur, was Identitätssuche und Selbstbehauptung im Prozess der Globalisierung betrifft, sondern ein gemeinschaftliches Bedürfnis, etwas nachzuholen, das lange verwehrt blieb. Viele der hier beschriebenen Regisseure, Dramatiker, Dramaturgen und Theatergruppen, die in den letzten zehn, zwanzig Jahren Aufsehen erregten, scheinen auf einer Suche zu sein, und in dieser Suchbewegung geht es immer um Alternativen zum Vorherigen, wie auch immer dieses Vorher aussah. Dieses Nachholbedürfnis ist symptomatisch für viele der porträtierten Länder - wie vielversprechend dieses Versäumte auch scheinen mag, wie viel von seinem Versprechen einzuhalten es in der Lage ist, soll hier dahin gestellt sein und wird die Zukunft zeigen.
Das junge Theater erscheint aber auch als historischer, sozialer, kultureller Erinnerungsort, an dem das Gedächtnis einer Gesellschaft in seiner ganzen Tiefe ausgelotet wird. Dieses Theater funktioniert als Seismograph, als (Lügen-)Detektor, als Maßstab und Vergrößerungsglas - als Messinstrument der Kultur im ästhetischen und programmatischen ebenso wie im politischen, sozialen und moralischen Sinne. Viele der Theater gleichen wahren Laboratorien, in denen ein loderndes Feuer brennt, über dem ein Kessel glüht und verbotene Zutaten vereint, gleichen Observatorien, die mit Blick in den Himmel die Zukunft formulieren und mit Blick auf die Erde Illusionen entlarven, Tabus brechen, Krisen und Konflikte visualisieren und versprachlichen als Antwort auf den Verfall alter Ordnungen und auf die Unübersichtlichkeit der Welt.

Und immer wieder sind es die freien Theater, die so genannte Off-Szene und ihre Kreateure, die in Sachen Innovation und Experimentierfreude den staatlichen Vorzeigebühnen den Rang ablaufen und die Theaterlandschaft vital halten - trotz aller finanziellen, personellen und räumlichen Dauerprobleme, eine freie Theaterszene, die aufgrund verrosteter Strukturen ohne Räume und mit nur wenigen Requisiten auskommen muss und darum oft eine nomadische, »inoffizielle« Existenz führt. Dabei hat sich der Druck auf die Theatermacher verlagert - weg von Zensur und Tabus hin zu wirtschaftlichen Zwängen und einer konsumeristischen Beliebigkeit. Die innere Notwendigkeit, Theater zu machen, ist einer Verzweiflung gewichen, mit der vielerorts um den gesellschaftlichen (Stellen-)Wert des Theaters gerungen wird. Dazu kommt der Kampf um ein Publikum, dem heute sämtliche Vergnügungen und Zerstreuungsmöglichkeiten offen stehen, für das das Theater nicht mehr einzige Quelle kultureller Auseinandersetzung bzw. schlicht und einfach Unterhaltung darstellt.

Die Zensur ist jedoch keine historische Fußnote, sondern gehört der jüngsten Vergangenheit an. Ihre Abschaffung hat nicht nur ein Vakuum an Ideen, an Inhalten zufolge und damit eine vorläufige Rückkehr zu alten Formen und Repertoires, sondern auch einen Abbruch des heimlichen Einverständnisses zwischen dem Theater und seinem Publikum. Um das Verhältnis zwischen Bühne und Zuschauerraum, den direkten Dialog mit dem Publikum ist es den meisten Regisseuren darum an erster Stelle zu tun - um so mehr, als dieses heimliche Einverständnis aus den Zeiten der Zensur und Unterdrückung verflogen ist. Einerseits ist es glücklicher Weise nicht mehr nötig, andererseits drohen die Theatermacher dadurch ihren Draht zum Publikum zu verlieren, zu »Rebellen ohne Mission« zu werden, wie es Audronis Liuga über Litauen so treffend formuliert.

Die hier beschriebenen Inszenierungen geraten darum vielfach zu Chiffren gesellschaftlicher Symptome - auf inhaltlicher wie formaler Ebene. Becketts WARTEN AUF GODOT wird in vielen dieser Länder quasi zu einem Exempel: die Absurdität eines Aktionismus in Wartestellung, in dem sämtliche Energien der künstlerischen Kreativität nur darauf harren, dass kulturpolitische, institutionelle und gesellschaftliche Strukturen ihnen freien Lauf lassen. Ein Warten, das auch in anderen Stücken und Produktionen thematisiert wird. Und noch ein Stück taucht immer wieder auf den Spielplänen dieser Länder auf: Marius von Mayenburgs FEUERGESICHT. Mit seiner Abrechnung mit der Kleinfamilie, der radikalen Ablehnung der Kinder gegenüber den Eltern, scheint ein Generationenwechsel eingeläutet zu werden, den die Regisseure wörtlich meinen. Jeder Abgesang, der in den meisten hier versammelten Essays zu hören ist, endet mit einem Loblieb auf die Hoffnung, auf Ausnahmetalente und alternative Wege, die sich unaufhaltsam entwickeln, national und international.

Aus all den geschilderten Gründen resultiert jene Schwierigkeit, die heimatliche Theaterlandschaft zu »vermessen«, der sich die beteiligten Autorinnen und Autoren dankenswerter Weise dennoch gestellt haben. Neben ihnen, den Protagonisten des Bandes, gebührt einer Reihe von Menschen an dieser Stelle ausdrücklicher Dank: Martina Vannayová, die dieses Projekt überhaupt initiiert und über alle Hürden getragen hat, Heike Flemming, die für beide Herausgeber eine unerlässliche Unterstützung war und ohne die es diesen Band in dieser Form nicht gegeben hätte, Darius Polok, dem Leiter des Programms »Kulturmanager aus Mittel- und Osteuropa«, und Ottilie Bälz, Projektleiterin der Robert Bosch Stiftung, die uns mit Rat und Tat zur Seite standen und von Anfang an vertrauensvoll die Publikation begleitet haben, sowie allen Partnern, die wir vor Ort für das Projekt gewinnen konnten und die sich großzügig und tatkräftig daran beteiligten: Raimond Cerūzis, Vitalie Ciobanu, Andreea Dinca, György Fehéry, Vladislava Fekete, Krasimira Filipova, Nikolay Iordanov, Marta Ljubková, Zane Kreicberga, Romana Maliti, Saulė Mažeikaitė, Andrei Moskwin, Joanna Nawrocka, Olga Perevezentseva, TiiaSipol, Ondřej Svoboda, Magdalena Szpak und Željka Turčinović. Ohne die Übersetzer jedoch, die einer nicht immer einfachen Aufgabe gegenüber standen, wären diese Texte für uns gar nicht lesbar geworden. Dank auch und besonders ihnen. Ausdrücklicher Dank gilt an dieser Stelle auch der Robert Bosch Stiftung für die Förderung des Landvermessungsprojekts sowie der vorliegenden Publikation.

 

Anna Häusler 

Berlin, Juli 2008

 

 

Anmerkungen
1 Jehle, Oliver: »Die Landvermesser kommen«, in: Busch, Werner/Jehle, Oliver (Hg.): Vermessen. Landschaft und Ungegenständlichkeit, Zürich/Berlin 2007, S. 9 – 12, hier S. 9.
2 Die Länder Albanien, Mazedonien, Montenegro und Slowenien konnten für diesen Band zu unserem Bedauern nicht »vermessen« werden. Wir hoffen, dass diese weißen Flecken auf der Landkarte bald durch »Landvermesser« aus diesen Ländern gefüllt werden.

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