Das Theater leben: DIE HANDLUNG
62 Das Ritual (II)
von Julian Beck
Erschienen in: Das Theater leben – Der Künstler und der Kampf des Volkes (05/2021)
POPULÄRES THEATER
Eins.
Ich war überrascht über die Heiterkeit der Menschen, die in Brasilien und Marokko Besessenheitskulte aufführen. Wellen der Angst überliefen mich, die Propaganda der weißen Kultur fing mich ein, und ich näherte mich diesem Theater mit dem gleichen falschen Ernst, mit dem ich in New York eine Synagoge oder eine Kirche betrete. Die Rituale dort werden von schmallippigen Leuten mit steifen Rücken institutionalisiert und Angst sitzt in jeder Ritze. Im Macumba oder den Gnawa-Praktiken, wo sehr seltsame Dinge passieren, gibt es dagegen keine Angst. Freudig gehen die Menschen dorthin. Auf dem Djemaa el Fna [Platz der Gehängten, auch Platz der Gaukler genannt] in Marrakesch herrscht tosendes Vergnügen. Menschen, die im Elend leben, haben diese Rituale entwickelt. In New York dagegen, wo das Leben immer oberflächlicher wird, machen uns die religiösen Riten schwermütig. Die revolutionäre Kultur wird das umkehren.
In Marokko und Brasilien nehmen an solchen Zeremonien hauptsächlich die Marginalisierten teil, die zerlumpten Armen, die Arbeiter, und in diesen Riten transzendieren sie ihre tägliche Ohnmacht, erleben die Kraft des Mysteriösen, ohne „Gelehrtenweisheit“: Es ist ein Austausch mit dem Unbekannten, mit den Toten, wenn nötig mit dem Teufel, Austausch mit jenen Kräften, die Mut spenden und die Kraft, die...