Schwerpunkt
Groß, finanzkräftig und etwas anders
Zeit für eine Annäherung an China als Kinder- und Jugendtheaterlandschaft
von Meike Fechner
Erschienen in: ixypsilonzett: Kindertheater in China – Märkte für Millionen (10/2018)
Die ASSITEJ hat auf internationaler Ebene für die Jahre 2018 bis 2020 unter der Überschrift „Towards the Unknown“ eine Programmatik entwickelt, die in China nicht mit der Gegenwart sondern mit der Zukunft beginnt. „Imagining the Future“ lautet der Auftrag. Tatsächlich ist China als Theaterlandschaft im ASSITEJ-Kontext noch ein recht junger Akteur, gestaltet seinen Auftritt jedoch ambitioniert. 2014 und 2018 wurde jeweils ein Chinese zur Wahl in den Vorstand der internationalen Organisation für das Kinder- und Jugendtheater nominiert. Zwar blieb dies (bislang) ohne Erfolg, weil der Kandidat in den Diskussionsformaten des Kongresses recht unsichtbar blieb und – aufgrund fehlender Englischkenntnisse – auch nicht einfach ansprechbar war, doch ist die Begründung der Nominierung 2014 lesenswert: „Mehr als zehn Jahre sind vergangen, seit China Mitglied der ASSITEJ geworden ist. Ein Fünftel der Weltbevölkerung lebt in China, darunter mehr als 380 Millionen Kinder und Jugendliche. Mit der Unterstützung aller Regierungsebenen entwickelt sich das Kinder- und Jugendtheater in China hervorragend. Aber noch immer sind keine Repräsentant_innen Chinas in den Gremien der ASSITEJ vertreten. Wir schlagen vor, für China mehr Sitze im Exekutivkommittee der ASSITEJ zur Verfügung zu stellen, um das Kinder- und Jugendtheater sowohl international als auch in China zu fördern.“ (Nominierung Yin Xiaodong 2014) Eine Annäherung an China als Theaterland und die Eröffnung eines Dialogs über Marktanteile und technische Entwicklungen, die Freiheit der Kunst und die Vermittlung von Traditionen scheint naheliegend.
Investitionen in Theatertechnik
Ökonomische Faktoren und Argumentationen sind zentral in unserer Wahrnehmung von China als Produzent, Rohstoffkäufer, Plagiatszentrale, Marktmacht, Sponsor der Fußball-WM und Bauherr von Eisenbahnlinien in afrikanischen Ländern. Es wird groß gedacht und, jenseits von Demokratie und Menschenrechten, schnell agiert und das gilt auch für den Theatermarkt. In der Zeitschrift „American Theatre“ berichtet Jonathan Mandell von seiner Teilnahme am Shanghai International Arts Festival (2017). Zum Programm gehörten Veranstaltungen für Investoren und Hang Chen, Chef einer Investmentfirma in Peking, beschrieb aktuelle Entwicklungen im chinesischen Theater vor allem anhand von Innovation in der Bühnentechnik, insbesondere im Hinblick auf die Integration virtueller und erweiterter (augmented) Realitäten, und daran anknüpfend auch ein dynamisches Crossover zwischen Bühne, Bildschirm und Gaming. Auch die Rolle des Internet wurde thematisiert. Zum einen als Verkaufs- und Kommunikationsplattform und zum anderen weil Internetfirmen (Internet Companies) in Theater (Theatre Companies) investieren wollen. Der Begriff „Company“ stellt hier eine Verbindung her, die bei uns bislang nicht oder selten besteht. Die technischen Entwicklungen der theatralen Räume sind für Investoren auf der Suche nach profitablen Zukunftsmärkten ebenso interessant wie für Sponsoren, die öffentlich sichtbar werden wollen. Das schafft Raum für eine neue Dimension der Kommerzialisierung im Theater, aber auch für technische Entwicklungen, die im analogen Live-Moment des Theaters ihren Platz suchen.
Nicht nur Technik, auch Gastspiele sind Teil des Marktgeschehens. Dass Shanghai Arts Festival tritt als Messe auf und sucht nach Material für den Export. So wurden Veranstalter_innen aus aller Welt eingeladen, diejenigen chinesischen Theatermacher_innen zu einer Pitch-Session zu bitten, deren Arbeit sie für ein internationales Publikum für geeignet halten. Auf diese Weise lernen die chinesischen Anbieter den Blick der Programmgestalter_innen in aller Welt kennen und können sich diesem anpassen.
Auch umgekehrt finden diese Entwicklungen statt, wenn Theatermacher_innen aus Europa ihren Blick nach China wenden und überlegen, was für den dortigen Markt geeignet sein könnte. Schon wird notiert, dass auf den großen Festivals in Belgien und Holland Produktionen gesichtet wurden, die offenbar für den chinesischen Markt gemacht worden seien: bunter, lauter und geeignet für große Zuschauerräume. Dies gilt es in Zukunft zu beobachten und näher zu beschreiben.
Dass Theater ein Markt für Investoren sein kann, scheint im heutigen China Normalität zu sein. Dass europäische Beratungsdienstleister insbesondere das Kindertheater als Zukunftssektor herausdeuten, ist (noch) eher ungewöhnlich. BOP, eine Agentur mit Büros in London, Edingburgh, Taipeh und Shanghai, die sich auf Kultur und Kreativwirtschaft spezialisiert hat, beschreibt „China’s booming Children’s Theatre sector“ als Markt der Zukunft und stellt fest, dass „das Kindertheater der am schnellsten wachsende Sektor in der Live-Entertainment-Industrie Chinas“ ist und begründet: „Die Bildungspolitik fördert eine stärkere Integration der Künste [in den Schulalltag], so dass die Zahl der Theater wächst und zugleich steigt das verfügbare Einkommen der Mittelschicht, so dass das Land neue Chancen für Kindertheatergruppen aus Großbritannien bietet.“ Kreativität wird – hier wie dort – als Motor der wirtschaftlichen Entwicklung betrachtet. Banal, aber nicht trivial, scheint der Hinweis auf die vergleichsweise hohen Ticketpreise, die 2015 bei rund 250rmb (ca. 30 €) lagen. Im Kindertheater ist China Importnation und zeigt viele internationale Produktionen. Es lohnt sich also, so die Experten von BOP, dort gesehen und gebucht zu werden.
Ein Beispiel ist das Shanghai International Children’s Theatre Festival, das vom China Welfare Institute’s Children’s Theatre (CWICT) veranstaltet wird. Man setzt auf internationale Gastspiele, um „unsere Kinder verschiedene Kulturen entdecken zu lassen“, wie Cai Jinping, Leiterin des CWICT, betont. 2017 kamen diese aus Argentinien, Brasilien, Israel, Japan und Libanon. Sie stellt auch fest, dass dem Publikum durchaus Unterschiedliches geboten wird: „Die Chinesen sind es gewohnt, einer Geschichte zu folgen, während die Ausländer Kreativität und Phantasie betonen“, so Cai, „und daher möchten wir den Horizont der Kinder erweitern und ihnen die Begegnung mit etwas Neuem ermöglichen.“ Ihr Anspruch an die Stücke ist, dass sie „Wahrheit, das Gute und Schönheit“ zeigen und dafür unterschiedliche künstlerische Formen wählen. Sie sieht dies und die Präsentation der internationalen Gastspiele auch als einen Appell an die Künstler_innen in China, dass sie die darstellenden Künste für junges Publikum ernster nehmen sollen als bisher: Gute Kunst statt Kinderbespaßung in schlechter Qualität lautet ihr Credo.
Traditionen und Innovationen
2015 nahm mit Ernan Mao erstmals ein Regisseur aus China am Internationalen Regieseminar (Directors in TYA – an International Exchange) der ASSITEJ Deutschland teil. Im Empfehlungsschreiben der China Children’s Dramatic Society wird auf zwei seiner Arbeiten verwiesen, die Anknüpfungspunkte für weltweite künstlerische Entwicklungen bieten könnten. In der ersten Empfehlung steht die Technikbegeisterung im Vordergrund, wenn die „perfekte Fusion“ von Kindertheater und Multimedia gepriesen wird. Ein „Physical Anime Drama“ dagegen kommt ohne Worte aus und erzählt zu[1]gleich ein altes chinesisches Märchen.
Die Faszination für technische Neuerungen zeigt sich auch im Enthusiasmus über die erste Schwarzlicht-Theater-Aufführung für Kinder in China. Lu Yisha, eine junge Regisseurin aus Shanghai, hatte diese Art des Theaters in Tschechien kennen gelernt und in einem Stück über das Sonnensystem mit Elementen des Figuren und Objekttheaters verbunden. Im Gespräch mit womenofchina.cn beschreibt sie ihren Blick auf die dynamische Entwicklung im Theater für junges Publikum in China. Einfach, klar und lustig soll Theater für Kinder sein und da kann, so Lu Yisha, das Kindertheater aus dem Westen in seiner Einfachheit und Ehrlichkeit, in der Balance zwischen Geschichte und Form und mit seinen guten Schauspieler_innen, durchaus als Beispiel dienen.
Die Frage, wie Traditionen in die Gegenwart überführt und wie das historische Wissen einer Gesellschaft weitergegeben werden kann, beschäftigt Theatermacher_innen weltweit. Lu Ang (Rektor des Regiestudiengangs an der Theaterakademie in Shanghai) wurde 2016 im Rahmen eines Theaterfestivals in Kairo interviewt und stellte fest: „Unsere Regierung tut viel für den Erhalt und die Unterstützung des traditionellen chinesischen Theaters. Was ich also versuche ist, den Staub vorsichtig von unserer traditionellen Kultur zu entfernen und sie auf eine moderne Bühne zu stellen, damit das Publikum ihre Schönheit sehen kann.“ Die Künstlerin und Wissenschaftlerin Faye Chunfang Fei, die im April 2017 in der Zeitschrift „American Theatre“ die Entwicklungen der Theaterlandschaft in Shanghai beschreibt, nimmt einen regelrechten Boom wahr, der in der Neuentstehung von Spielstätten ebenso ablesbar sei wie im Zulauf junger Künstler_innen und Zuschauer_innen – 90 % der Zuschauer_innen seien 40 oder jünger. Den jungen Theaterkünstler_innen in Shanghai wird bescheinigt, dass sie wahre Weltbürger_innen und Multitalente seien. So entstehen, wie Faye Chunfang Fei schreibt, zeitgenössische Inszenierungen alter Stoffe und formale und inhaltliche Neuinterpretationen, die an Schulen und Universitäten gezeigt werden. Sie unterstreicht, dass die Künstler_innen als Individuen auftreten und mit ihren weltweit erworbenen künstlerischen Fähigkeiten Jugendliche und junge Erwachsene besonders ansprechen.
Schönheit versus Freiheit?
Im bereits zitierten Gespräch mit Lu Ang wird dieser auch gefragt, wie frei das Theater in China sei: „Meiner Meinung nach ist Theater wie eine Religion. Es will das Gute im Menschen wecken. Das ist der Grund, warum wir Theater machen. Wir sind frei, aber diese Freiheit ist nicht absolut. … Ich denke, dass Theateraufführungen, die soziale Probleme thematisieren, von den Behörden erlaubt werden sollten, wenn diese Probleme wirklich existieren und die Aufführung einen guten Zweck verfolgt.“ Das Thema Zensurist also nach wie vor nicht aus dem Alltag der Künstler_innen in China wegzudenken.
Die Unabhängigkeit des eigenen künstlerischen Ausdrucks spielt auch in der Arbeit von Nunu Kong eine Rolle, die als Choreographin und Regisseurin einer deutsch-chinesischen Koproduktion mit dem Festival „KinderKinder“ in Hamburg zusammen gearbeitet hat. Die Ziele ihres Projektes „brand nu dance“ beschreibt sie als Bewegung weg von einem vorgefertigten Konzept von „Chineseness“ und Nationalkultur hin zu einem ehrlicheren Ausdruck des menschlichen Körpers. Stephan Löwis vom Festival KinderKinder setzt seit über 10 Jahren Kooperationen mit China um. Das China Welfare Institute und das Liaison Office der hamburgischen Industrie- und Handelskammer sind seine zentralen Partner und während er die Zusammenarbeit mit den staatlichen Stellen als durch[1]aus anstrengend beschreibt, sieht er viel Potential in partizipativen Projekten, die auf Austausch setzen und in der Zusammenarbeit mit Künstler_innen, wie dem Kalligraphen und Buchautor Chen Jianghong, der in „Han Gan und das Wunderpferd“ die Hauptrolle in der Bühnenfassung seines Werkes gespielt hat.
Asiatische Netzwerke
Schon 1998 plädierte Wolfgang Wöhlert in seinem Beitrag über das Theater für junges Publikum in der Enzyklopädie des Zeitgenössischen Theaters in Asien und im Pazifischen Raum dafür, in Zukunft den Blick nach Asien zu wenden: „In Asia, theatre and performing arts have many old,rich and differentroots. Therefore, in future, theatre for young audiences in this region could grow to be the most varied, innovative, creative and stimulating of anywhere in the world.” Das Bewusstsein für den Reichtum dieser Theaterlandschaft spiegelt sich auch in asiatischen Netzwerken der Kinder- und Jugendtheater.
In der Asian Alliance of Festivals and Theatres for Young Audiences (ATYA) haben sich seit 2004 die Kinder- und Jugendtheater und die Festivals des Theaters für junges Publikum zusammen[1]getan. Eines ihrer Ziele ist es, das Kinder- und Jugendtheater Asiens und seine einzigartigen Kulturen in der Welt bekannt zu machen. Das Asian Children’s Theatre Festival (ACTF) wird von wechselnden Gastgebern des Netzwerkes ausgerichtet und will vor allem Produktionen aus Asien zeigen. 2016 wurde, ebenfalls in Okinawa, das Asian TYA Network gegründet. Die Ziele dieses Netzwerkes, das auf individuelle Mitgliedschaft setzt, sind Qualität und Zeitgenossenschaft in den Darstellenden Künste für junges Publikum und die Schaffung nachhaltiger Partnerschaften. In einer Region, in der Reichtum und Armut nah beieinander liegen und die Theatertraditionen sehr unterschiedlich sind, beobachten die Gründer eine wachsende Anerkennung für das Theater für junges Publikum und stellen zugleich fest, dass es weltweit ein großes Interesse an „TYA in Asia“ gibt. Das Japan Foundation Asia Center tritt als Ko-Organisator dieses Netzwerks auf, das seine Aktivitäten beim Ricca*Ricca Festival in Okinawa konzentriert, Stipendien und Forschungsreisen ermöglicht. Welche Rollen Länder wie Japan und China in Netzwerken wie diesen künftig für sich in Anspruch nehmen werden, bleibt nicht nur innerhalb der ASSITEJ eine spannende Frage.
Mitglied von ATYA ist auch die China Association of Performing Arts (CAPA) – Children’s Performing Arts Committee mit Sitz in Peking. Sie beschreibt sich selbst als Organisation, die mit ihrer Expertise mehr als 135 Millionen Kinder anspricht. Produktion, Aufführung und Vermarktung von Kinder- und Jugendtheater sind ihr Auftrag und internationale Zusammenarbeit ist eines ihrer Ziele. Die Mitglieder von CAPA spielen jedes Jahr 10.000 Aufführungen und haben damit einen Marktanteil von 90% im „Chinese children’s performing arts market“. Internationale Gruppen sind eingeladen, sich für die Teilnahme am CAPA Festival zu bewerben. Die genannten Kriterien lauten: Die Aufführung soll für ein Publikum von mehr als 500 Personen gespielt werden können, kreativ und von visueller Schönheit sein und wenig Sprache enthalten.
In der Recherche zu China sind zwischen Technikbegeisterung, Neugier, Innovation und internationalem Anspruch immer wieder die großen Zahlen und dynamischen Entwicklungen der letzten Jahre beeindruckend. „Imagining the Future“ – das scheint vor diesem Hintergrund ohne China nicht denkbar, braucht aber kritische Reflexion und offene Fragestellungen. Das ASSITEJ Artistic Gathering in China war eine erste Etappe auf diesem Weg ins Unbekannte.
Meike Fechner ist Geschäftsführerin der ASSITEJ Deutschland.
Literaturhinweis: Die Zitate und Quellenhinweise in diesem Text stammen aus diversen Artikeln, die online veröffentlicht sind. Eine vollständige Linkliste steht unter www.assitej.de zur Verfügung.