Theater der Zeit

Die Rücknahme der Maßgabe

von Hans-Thies Lehmann

Erschienen in: Recherchen 123: Brecht lesen (06/2016)

„[…] Sinn für eine grenzenlose und folglich
notwendig übermäßige, unberechenbare
Verantwortung […]“
„[…] Gerechtigkeit beruht […] nicht auf
Gleichheit, auf einem berechneten Gleichmaß,
auf einer angemessenen Verteilung, […] sondern
auf einer absoluten Asymmetrie […]“
„[…] ‚Idee der Gerechtigkeit‘: […] Forderung
nach einer Gabe ohne Austausch, […] ohne
Kalkül und ohne Regel, ohne Vernunft oder
ohne Rationalität im Sinne des ordnenden, regelnden,
regulierenden Beherrschens. Man kann darin
also einen Wahn erkennen […]“1 (Derrida)

1

Die folgende Skizze nähert sich Brecht von einer ungewohnten Seite. Das Maß, die Schuld, die Überschreitung – diese Begriffe, so will mir scheinen, lenken den Diskurs Brechts, nicht nur sein Theater, in entscheidender, aber zugleich verborgener Weise. Dass bei ihm das Individuum abdankt, seine „Absetzung“ (wie bei einem Herrscher) betreibt, hinterlässt in Brechts Schreiben eine Spur, denn in der Auslöschung des Gesichts ist doch dessen bindende Anwesenheit – sozusagen mit negativem Vorzeichen – gesetzt; am ausgestoßenen und gestürzten Moment der Unvernunft macht er die Kraftquelle der Vernunft, im Asozialen die conditio sine qua non der Veränderung des Sozialen sichtbar. Bertolt Brecht war ein Dichter des Maßes.

Für das Pathos der Mäßigung besaß er einen sechsten und sehr poetischen Sinn. Das Maß fasst viel, fast alles. Politik...

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