Auftritt
Augsburg: Der unsichtbare Dritte
Staatstheater Augsburg: „Oleanna – ein Machtspiel“ von David Mamet. Regie Axel Sichrovsky, Ausstattung Jan Steigert
Erschienen in: Theater der Zeit: Der Sound der Algorithmen – Schwerpunkt Musiktheater (03/2021)
Assoziationen: Staatstheater Augsburg
Corona hat unseren Wortschatz erheblich erweitert. Begriffe, die vor einem Jahr noch weitgehend unbekannt waren, gehören heute zum Alltagsvokabular. Für Kritiker ist ein ganz spezielles Wort dazugekommen: „Rezensionsbrille“. Selbige liefert der Paketdienst nach Hause, zu Transportzwecken im Kartoninneren gebettet in zerknülltes Weihnachtsgeschenkpapier. Die in solchen Fällen gebräuchliche Blasenfolie hatte Tina Lorenz offenbar nicht vorrätig. Lorenz ist Projektleiterin für digitale Entwicklung am Staatstheater Augsburg und derzeit im Homeoffice. Von dort hat sie ein Presseexemplar des neuesten Home-Entertainment-Angebots ihres Arbeitgebers losgeschickt: eine VR-Brille, die mit einer Filmfassung von David Mamets „Oleanna“ bespielt ist, inszeniert von Axel Sichrovsky.
Die Handhabung ist simpel: Aufsetzen, einschalten und eintauchen in die virtuelle Realität. Da steht man dann – scheinbar – mitten in einer alten Bibliothek, und wer sich nun an seinem realen Standort einmal um sich selbst dreht, sieht nicht das eigene heimische Mobiliar, sondern im 360-Grad-Rundumblick Wände voller Bücherregale. Man meint, den Geruch alter Wälzer wahrzunehmen, spürt die erdrückende Last geballten Wissens. Die Studentin Carol fühlt sich dieser Last ausgeliefert, weshalb sie den Kontakt zu ihrem Professor sucht. Mit trotzigem Willen zur Selbstbehauptung berichtet Katja Sieder als Carol von der Überforderung mit dem Lehrstoff. John, der Professor, zeigt Verständnis, bietet seine Hilfe an, gern auch im Einzelunterricht. Bei Andrej Kaminsky hat dieses Angebot nichts Schmieriges, und doch steckt im gut-väterlichen Auftreten eine unübersehbare Portion Paternalismus, die Herablassung des alten Mannes gegenüber der jungen Frau. Klassisches Mansplaining, das man als stummer Zeuge im virtuellen Raum hautnah miterlebt. „Oleanna“ ist bereits 1992 entstanden. Im Zuge der #MeToo-Bewegung haben die Theater das Stück wiederentdeckt. Den Titel hat sich Mamet vom Norweger Ole Bull ausgeliehen, der im 19. Jahrhundert eine Siedlung gründete, um ein neues Ideal gemeinschaftlichen Zusammenlebens der Geschlechter zu verwirklichen. Bull taufte den Ort nach sich und seiner Frau: „Ole-Anna“.
In Mamets Stück sind die Verhältnisse klug ausbalanciert. Einfache Parteiname ist unmöglich. Anfangs scheint es klar: Johns Auftreten ist sexistisch. Später aber bezichtigt Carol ihn schuldlos der sexuellen Belästigung, schließlich sogar der Vergewaltigung. Dem VR-Brillen-Beobachter kommt die Rolle des unsichtbaren Dritten zu, der die Wahrheit bezeugen könnte – wenn es ihn denn auch im echten Leben in solchen Fällen gäbe. Aber was wäre überhaupt die Wahrheit? Dass John freizusprechen ist von Vergewaltigungsvorwürfen? Natürlich! Dass Carol folglich der Verleumdung zu bezichtigen wäre? Keineswegs! Zwar lügt sie. Ebenso offenkundig aber spricht sie dabei die Wahrheit aus: über die Ohnmacht, die sie in einem patriarchalisch geprägten System alltäglich erfährt.
Axel Sichrovsky hat „Olenna“ bereits vor zwei Jahren auf die Augsburger Bühne gebracht. Der Mehrwert seiner VR-Brillen-Adaption erschöpft sich erfreulicherweise nicht in technischer Spielerei. Der Regisseur gibt sich nicht damit zufrieden, einfach nur eine möglichst „echte“ Seherfahrung zu stiften. Nach dem hyperrealistischen Beginn in der Bibliothek wird der Kampf gegen die herkömmliche Hackordnung unter den Geschlechtern später auf einem Hühnerhof ausgetragen. Im virtuellen Rundumblick erscheinen neben John und Carol Hennen, die nach Körnern picken, sowie die Souffleuse, die verkleidet in ein Moorhuhn-Kostüm auf einem Campingstuhl Platz genommen hat: ein betont bizarres Szenario. Interessanterweise schadet das der Auseinandersetzung mit den wirklichkeitsnahen Fragen des Stücks nicht im Geringsten. Im Gegenteil: Das Surreale der Situation, in die Sichrovsky die Handlung verlegt hat, erlaubt sogar eine breitere Beschäftigung. Juristisch betrachtet sind Carols Bezichtigungen fragwürdig. In einem Setting aber, das der Eins-zu-eins-Abbildung von Realität enthobenen ist, wird nicht nach geltendem Recht, sondern nach den Gesetzen der Kunst verhandelt. So stellt sich hier nicht mehr die konkrete Frage, ob der Vergewaltigungsvorwurf in diesem speziellen Fall gerechtfertigt ist oder nicht. Die Anklage ist eher metaphorisch zu begreifen und mutiert zur Aufforderung, allgemeiner und neu über Gender-Verhältnisse nachzudenken. Dabei müssen beide Geschlechter Federn lassen, wenn etwa die Debatte um eine (hier: feministisch motivierte) Cancel Culture anklingt. Dass Carol die Johns dieser Welt, die sprichwörtlichen alten weißen Männer, generell mundtot machen möchte, scheint jedenfalls auch kein Gewinn für ihre Sache.
Beim Abnehmen der Brille schwirrt einem der Kopf angesichts der Fülle aufgeworfener Fragen – und auch, weil die virtuellen 360-Grad-Bilder dem Hirn Streiche spielen, die Schwindelgefühle auslösen. Eine in jeder Hinsicht bewegende Inszenierung. Und ein echtes Geschenk, auch ohne Weihnachtseinwickelpapier als Pufferung im Päckchen. //