Theater der Zeit

Ein Wort voraus

von Sebastian Kleinschmidt

Erschienen in: Recherchen 10: Die Freiheit ein Augenblick – Texte aus vier Jahrzehnten (01/2002)

Assoziationen: Friedrich Dieckmann

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Es gibt nicht viele Menschen, die es verdienen, ein freier Geist genannt zu werden. Und bestimmt sind sie nicht dort zu suchen, wo lautstark und selbstgewiß davon die Rede ist. Freiheitssinn ist eine Charakterfrage, und Kraft der Selbstbestimmung ein Vermögen von Reife. Friedrich Dieckmann besitzt beides in hohem Maße. Drei Jahrzehnte Autorschaft unter DDR-Bedingungen waren nicht unbedingt eine gute Schule, aber wahrlich eine harte Prüfung. Doch wer hätte ernstlich gedacht, daß innere Freiheit sich auch unter den Auspizien äußerer Freiheit zu bewähren hat? Dieckmanns Schriften seit dem Revolutionsherbst 1989, seine vielfachen Ost-West-Interventionen in Sachen Wiedervereinigung, Grundgesetz, deutsche Nation, Literaturstreit, PEN-Querelen, Berliner Stadtgestaltung und anderes mehr zeugen auch unter völlig veränderten historischen Vorzeichen vom Kraftfeld eines Autors, der nicht aus Reßentiment, nicht aus polemischem Naturell Einspruch erhebt, sondern weil es etwas zu berichtigen gibt. In ihrer ganz auf Stoff und Gegenstand bezogenen Leidenschaft des Richtigstellens hat Dieckmanns Autorschaft etwas beinahe Konfuzianisches. Ein feiner Sinn für Benennungen, Beschreibungen und Bewertungen sowie die Überzeugung, daß den Komplikationen, mit denen wir es im Prozeß der deutschen Einheit zu tun haben, spezifische Bewußtseinsfallen zugrunde liegen, in die man aus Vorurteil, Anmaßung oder falscher Parteinahme gerät, zwingen ihn immer wieder zur Gegenrede. Doch nicht Rechthaben ist sein Ziel, sondern Entkrampfung, Befreiung aus Gefangenschaften, Aufstören aus der Gedanken Trägheit.

Aufklärung dieser Art ist immer willkommen, denn das Terrain historischer Täuschungen und Selbsttäuschungen ist allezeit unerschöpflich. Aber im Grunde ist er gar kein Mann des Widerspruchs, es sind die Umstände, die ihn immer wieder treiben. Von Haus aus scheint er doch eher das Einverständnis zu lieben. So spiegelt sich sein Wesen am meisten, wenn er über Goethe, Bach, Mozart oder Schubert schreibt, über Menschen also, die er verehrt. Und nicht selten macht man die erstaunliche Entdeckung, daß Dieckmanns Bildnisse verborgene Selbstbildnisse sind, natürlich stets unter neuem Blickwinkel. Einverstandensein ist etwas Unerschöpfliches. Das Fundament heißt Freundschaft mit sich selbst. Erst sie macht Freundschaft überhaupt möglich.

Die Frage ist, ob Dieckmann dem Typus des Kritikers tatsächlich zugehört. Auch Theaterrezensionen und Buchbesprechungen zeigen ihn als Mann der bedachtsamen Wertung, der Empathie, des Verstehens und Entschlüsselns. Fürs Bellen und Beißen, fürs professionelle Mäkeln ist er viel zu vornehm. Hinzu kommt der auffällige Mangel an Bosheit gegen Zunftgenossen. Und nicht zu vergessen jene schöne Gabe spielerischer Versöhnung, die ansteckende Herzlichkeit seines Humors. Dies alles spricht zwar nicht für den Kritiker, aber es spricht für den Schriftsteller, für den Charme eines heiteren, mit sich im Einvernehmen stehenden Menschen. Auf Dieckmann trifft zu, was Leibniz von sich gesagt hat: daß ihn Kritik nicht interessiere und daß er aus jedem Buch etwas lerne. Solcherart Lernen lebt vom Genuss am Selbstunterricht, vom Streben nach eigener Wesenserweiterung. So zeigt sich, Leben ist die Art, wie man lernt. Dieckmanns Art zu lernen erwächst aus weitverzweigter Wissenslust. Sie gilt von jeher als der wahre Weg zur Bildung, Bildung im umfassenden, im goetheschen Sinne.

Daß er diesen Weg unbeirrt gegangen ist, hat zu einer überaus produktiven, in vielen literarischen Gattungen ertragreichen Autorschaft geführt: zusammen genommen bald zwanzig Bücher sowie unzählige Beiträge in den bedeutendsten Zeitschriften des Landes. Welche Wohltat diese von Wissenschaftsgläubigkeit und terminologischer Sprachenge freie, in vielen Disziplinen bewanderte Gelehrsamkeit doch ist. »Ich habe fleißig sein müssen«, lautet ein Wort von Bach, »wer ebenso fleißig ist, der wird es ebenso weit bringen können.«

Dieckmanns vielfältige Interessen haben ihn bis ins Politische geführt. Nicht ideologische Leidenschaft oder der Wille zur Einflußnahme waren ausschlaggebend, sondern die Faszination des Dramaturgen durch das Theatrum mundi, die Welt als Bühne, auf der die Menschen, durch welche Mächte zwischen Himmel und Erde auch immer bewegt, ihre mehr oder weniger glanzvollen Rollen spielen. Dieckmanns Wort von der Geschichte als einem unberechenbaren Künstler entstammt dieser Anschauung, und es ist durch eigene Erfahrung beglaubigt. Von Anfang an ergab sich für ihn eine Berührung der für gewöhnlich getrennten Sphären: Politik - der Betrieb staatlicher Machtausübung - als Gegenstand der Literatur; Literatur - der Bezirk ästhetisch gefaßter Gesellschaftsbeschreibung - als Gegenstand von Politik. Ironischerweise haben die Schriftsteller in der DDR nur die eine, die Herrschenden nur die andere Praxis gewollt, während beide das jeweils Verbliebene mit Argwohn betrachteten. Es versteht sich, daß unter solchen Verhältnissen Dieckmanns Doppelbegabung schlecht auslebbar war. Sein politisches Weltverhältnis wurde, ähnlich wie bei Wolfgang Thierse, erst in und nach der Wende öffentlich sichtbar.

Eng mit dem Politischen ist sein geschichtliches Interesse verbunden. Was wir am meisten an Dieckmanns immergrünem Bewußtseinsbaum bestaunen, sind die historischen Wissensnester, in denen, wie von einer wißbegierigen Elster gesammelt, die wunderlichsten Schätze aller Länder und Zeiten lagern. Wer hier stöbert, wird immer fündig. Historischer Sinn ist Sinn fürs Detail und zugleich Sinn für Rhythmus und Richtung des Ganzen. Ohne sie kein Fingerspitzengefühl und keine Situationsintelligenz. Sie aber sind nötig, wenn es gilt, sich Gunst und Ungunst der Umstände, unter denen die Menschen agieren, vor Augen zu führen, damit man begreift, warum etwas ist, wie es ist. Dieckmanns Schriften, nehmen wir nur »Leben in der güldnen Zeit« oder »Erinnerungen an die Zensur«, sind hier von einem tiefen Realismus und einer wunderbaren Gerechtigkeit. Es ist die Liebe zum Konkreten, die ihn gegen das Bretterwerk der Begriffe, gegen den dürren Wanderstock der Theorie feit, die ihn zum Erzählen führt, zum Vergleichen, zum nachdenklichen Vergewissern. Die ihn zu einem der originellsten deutschen Essayisten hat werden lassen.

So kommt am Ende alles auf den Atem an, den einer hat, und auf den Ton. Die Philosophie kann man ruhig beiseite lassen, sie ist Sache des inneren Barometers. Von einem, der von Ernst Bloch herkommt, ist ohnehin anzunehmen, daß sie sich in der Auslegung von Musik verbirgt.

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