Verrücktes Blut I: Die Macht bürgerlicher Ästhetik
von Julius Heinicke
Erschienen in: Recherchen 148: Sorge um das Offene – Verhandlungen von Vielfalt im und mit Theater (05/2019)
Assoziationen: Maxim Gorki Theater
Nurkan Erpulat und Jens Hilljes Verrücktes Blut war schon am Ballhaus Naunynstraße erfolgreich und wurde mit seiner Wiederaufnahme am Gorki als „Klassiker“ des postmigrantischen Theaters deutschlandweit bekannt. Der große Erfolg rührt daher, dass die Inszenierung (post)migrantische Klischees in einem traditionellen europäischen Theatersetting verhandelt und so das klassische Publikum weder in liminale noch in asymmetrische Sphären getrieben wird, sondern sich auf seinem Platz im Parkett oder auf dem Rang sicher und erhaben fühlt. Die Aufführungen im Gorki Theater an Berlins geschichtsträchtigem Boulevard Unter den Linden treiben die doppeldeutigen, zuweilen ironischen Bezüge der Inszenierung zum klassischen europäischen Theater auf die Spitze. Dies geschieht jedoch ohne Peripetie bezüglich der tradierten Darstellungspolitik des bürgerlichen Theaters: Ein neues ästhetisches Format eines postmigrantischen Theaters wird mit Verrücktes Blut nicht vorgelegt, was darauf hindeutet, wie starr die klassischen Strukturen des städtischen Sprechtheaters sind.
Der Schinkelbau der ehemaligen Singakademie wurde 1827 errichtet und repräsentiert einen Aufführungsraum klassisch-bürgerlicher Couleur, dem sich Verrücktes Blut bis auf einen kurzen Moment zum Schluss der Inszenierung – an welchem der Hauptprotagonist die Waffe in den Zuschauerraum richtet und somit das Publikum bewusst „anspricht“ – ganz und gar einschreibt. Die illusionistisch-realistische Spielweise zollt der Guckkastenbühne, der ansteigenden, festen Zuschauerreihung und des Einforderns eines domestizierten...