Theater der Zeit

»Warum zertrümmert ihr das Fundament?«

Ein Gespräch mit Hartwig Albiro und Carena Schlewitt. Moderation: Janine Ludwig

von Carena Schlewitt, Hartwig Albiro und Janine Ludwig

Erschienen in: Recherchen 154: Klassengesellschaft reloaded und das Ende der menschlichen Gattung – Fragen an Heiner Müller (01/2021)

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Janine Ludwig: Es hat sich heute Morgen herausgestellt, dass wir wirklich ganz am Anfang stehen, und dass sehr viel noch durchgeackert werden muss, bevor wir zu irgendeiner Art von Einigkeit kommen. Heute Abend haben wir uns ein – ja, vielleicht nicht ganz einfaches – Programm, würde ich sagen, vorgenommen. Denn wir haben die schwierige Aufgabe, aus den Themen und Theoremen des Tages jetzt auf eine praktische Ebene zu kommen. Ich habe hier zwei großartige Theaterpraktiker zu meiner Linken und Rechten.

Und zwar Hartwig Albiro, der als Schauspieler angefangen hat, mehrere Jahre in Altenburg, Stendal, am Dresdner Theater Junge Generation, in Meißen und in Görlitz überall als Schauspieler tätig war, aber auch schon frühzeitig immer gewechselt ist in das Fach des Spielleiters. In Görlitz war er bis 1968 Spielleiter, dann Regiemitarbeiter am Berliner Ensemble und dann – und das klingt beeindruckend – ein Vierteljahrhundert lang, also von 1971 bis 1996, am Schauspielhaus Karl-Marx-Stadt/Chemnitz Schauspieldirektor. Außerdem war er im Präsidium des Verbands der Theaterschaffenden der DDR Vorsitzender der Sektion Schauspiel. Also ich bin sehr gerührt und angetan davon, dass ich Sie hier moderieren darf.

Dazu Carena Schlewitt, die an der Humboldt-Universität zu Berlin Theaterwissenschaften studiert hat, die dann an der Akademie der Künste in Ostberlin wissenschaftliche Mitarbeiterin war. Danach war sie als Dramaturgin oder als stellvertretende künstlerisch Leiterin tätig: unter anderem beim Festival »Theater der Welt« in Berlin, beim Forum Freies Theater in Düsseldorf und am HAU in Berlin. Ab 2008 war sie 10 Jahre künstlerische Leiterin der Kaserne Basel. Seit 2018/19 ist sie die Intendantin von HELLERAU, dem »Europäischen Zentrum der Künste« in Dresden. Ein interdisziplinäres, internationales Großprojekt – wenn ich das so sagen darf.

Und beide haben einen ganz konkreten Bezug zu einem bestimmten Müller-Stück, mit dem wir auch jeweils beginnen werden. Und zwar hat Herr Albiro möglich gemacht, dass Frank Castorf den Bau in Karl-Marx-Stadt ’86 inszenieren konnte.

Hartwig Albiro: Mit Meyer, mit Gerhard Meyer.

Janine Ludwig: Nicht alleine, bescheiden wie er ist. Frau Schlewitt hat damals, noch als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Akademie der Künste, die berühmte Lohndrücker-Inszenierung, die Heiner Müller am Deutschen Theater 1988 selbst besorgt hat, mitverfolgt und in einem wunderbaren Buch dokumentiert. Darüber werden wir auch sprechen.

Das heißt, wir haben einen Anhaltspunkt mit zwei konkreten Stücken zu Beginn, was immer ganz gut ist, weil wir heute Morgen schon sehr viel über das Produktionsstück und frühe Stücke Heiner Müllers gesprochen haben. Gleichzeitig haben wir natürlich auch die Möglichkeit und die Chance, mit Ihnen beiden über die Zeit von 1989 zu reden, über die Umbrüche, die Rolle des DDR-Theaters in diesen Umbrüchen und vielleicht sogar noch über das politische Theater heute in Chemnitz und Dresden. Und wenn Sie jetzt sagen: »Das hat keine Chance, das können wir nicht schaffen«, dann werden Sie wahrscheinlich Recht haben. Wir versuchen es trotzdem.

Beginnen wir mit dem frühesten Ereignis, mit dem Bau von Frank Castorf, dem berühmten in Karl-Marx-Stadt. Den ich natürlich nicht gesehen habe, wie wahrscheinlich die meisten hier. Und es gibt auch fast keine Aufzeichnungen, oder zumindest sind sie nicht leicht zu bekommen. Also vielleicht können Sie uns über die Entstehung dieser Inszenierung und auch die Art und Weise dieser Inszenierung ein paar Sachen aus der Erinnerung erzählen.

Hartwig Albiro: Ich freue mich ganz besonders, dass Andrea Koschwitz hier im Publikum ist. Sie war die Dramaturgin dieser Aufführung. Und immer dann, wenn ich vielleicht nicht genau Bescheid weiß, wenn es um die Texte geht – da werden wir sicher drüber reden –, kann sie helfen. Ich will aber gerne was erzählen, weil diese Begegnung mit Castorf in Karl-Marx-Stadt etwas zu tun hat mit der Situation, in der sich Castorf befand. Die Arbeit von Bau ist eigentlich mehr eine Arbeit von Castorf auf dem Fundament von Heiner Müller. Und der Anfang der Geschichte geht so:

Es gibt den Hermann Beyer, den Schauspieler, den Bruder von Frank Beyer. Der war Schauspieler in Potsdam, kannte den Gerhard Meyer. Und Hermann Beyer rief also Gerhard Meyer an, und sagte: »Es gibt hier einen Castorf, der ist im norddeutschen Raum tätig – in Anklam oder so – und der hat immer Schwierigkeiten. Könnt ihr als Bezirkstheater und als angesehene Bühne« – wir waren ja Träger des Karl-Marx-Ordens usw., hatten also ein gewisses Vertrauensverhältnis – »könnt ihr nicht was tun für diesen Menschen?« Da hat Meyer den Castorf bestellt und Castorf kam und wollte eigentlich Ibsen machen und eigentlich was ganz anderes. Aber er war relativ schnell bereit, auch den Bau zu machen. So ist eigentlich diese Bekanntschaft oder diese Empfehlung, die zu einem großen Theaterereignis in der DDR führte, entstanden. Basierend auf einer persönlichen Beziehung, wenn man so will.

Castorf kam dann und hat auch – daran kann ich mich ziemlich genau erinnern – in der Konzeptionsprobe viel geredet, aber eigentlich wenig über Müller und wenig über seine Absichten. Und von Anfang an war über dem Unternehmen so ein Hauch der Improvisation und der künstlerischen Ideenvielfalt. Aber so richtig genau wusste man nicht, wo es hinläuft. Jedenfalls der erste richtige Durchlauf war dann die Premiere und die Aufführung dauerte gefühlte fünfeinhalb Stunden. Der Intendant ging vor den Vorhang und sagte: »Es geschieht heute etwas Außergewöhnliches, ein sehr langer Theaterabend, aber etwas sehr Besonderes. Genießen Sie es usw.«

Die Aufführung hat eine große Wirkung hinterlassen. Sie war eindeutig sehr lang – oder auch zu lang, kann man sagen. Es gelang dank einer List von Meyer, die Aufführung zu verkürzen. Ich war bei dem Gespräch dabei. Das haben wir mit der damaligen Freundin von Castorf geführt. Die wurde eingeschaltet und Meyer hat erreicht, dass die Freundin auch Einfluss nimmt, damit die Aufführung kürzer wird. Sie wurde dann auf dreieinhalb Stunden gekürzt.

Die Aufführung löste großen Jubel aus, aber auch große Irritation, weil der Otto Normalverbraucher natürlich von dem, was er vielleicht schon kannte, wenig wiedergefunden hat. Kenner aber entdeckten eine Vielfalt von sinnlichen Wahrnehmungen von DDR-Wirklichkeit. Von Träumen der DDR-Bürger, vom Fundament, das gebaut werden sollte und zertrümmert wurde durch die Obrigkeit oder durch die Planwirtschaft. Die Geschichte mit der Schlee und dem Parteisekretär. All das waren Episoden.

Im Stück spielte zum Beispiel das Lied vom Luftballon, Schenk mir einen blauen Luftballon, eine große Rolle. Es wurden Lieder gesungen. Also das Ganze war auch eine Illusion, ein Traum von einer Welt. Jetzt versuche ich es einmal zu verknappen: Die Aufführung bestach durch ganz viele Improvisationen, die über die Schauspieler entstanden waren in der Probenarbeit. Durch ganz viele Merkwürdigkeiten, Besonderheiten, Bilder, die eigentlich gar nicht in das normale Leben eines Werktätigen auf dem Bau passten. Die auch in der Realität der Theaterszenerie der damaligen Zeit ungewöhnlich waren. Es mischte sich Verschiedenes: Der Arbeiter brachte dem Parteisekretär ein Stück der Rolling Stones bei. Solche Geschichten, die bei Müller nicht direkt stehen.

Es war eine erfolgreiche, sehr bemerkenswerte Aufführung. Aber die Kritiker waren auch nicht wenige. Und jetzt kommt der Theaterverband ins Spiel. Als die Kritik immer heftiger wurde und sogar »Müsst ihr denn das spielen?«, also ein mögliches Verbot im Raum schwebte, habe ich dann mit Verbündeten ein Kolloquium organisiert, wo wir führende Köpfe der DDR-Theaterszene nach Karl-Marx-Stadt geholt haben und nach der Aufführung debattiert haben. Dieses Kolloquium war eigentlich der Durchbruch. Wir haben gewonnen, würde ich sagen. Dabei auch mit etwas List: dass wir die richtigen Leute zur richtigen Zeit reden ließen. Wolfgang Heinz war zum Beispiel da. Wie auch immer, damit war die Aufführung gesichert und wir spielten sie.

Allerdings war zur Premiere auch das Staatsschauspiel Hannover anwesend, die anschließend ein Gastspiel machte. Die wollten Der Bau unbedingt auch in Hannover haben. Das wurde dann aber nicht genehmigt, mit dem Argument: Müller geht im Moment nicht. Wir waren mit fünf Stücken in Hannover und haben drei Wochen Bundesrepublik-Tournee gemacht. Aber statt Bau war es dann Der Biberpelz. Das war ein Verlust, und als Entschädigung wurde angeboten, dem Castorf und uns: »Ihr könnt es aber mit nach Polen nehmen.« Wir waren dann in Warschau und Wrocław. Die Polen haben das Stück wenig verstanden. Das ist die Geschichte über die Aufführung.

Und, damit will ich jetzt erst einmal enden: Wir haben 1990 die letzte Aufführung in Frankfurt am Main gespielt. Das Deutsche Theater war auch da und die Schweriner waren da, mit der Wolokolamsker Chaussee. Da gab es dann die Idee, ausgesprochen von – ich glaube es war Günther Rühle – also vom Macher der Frankfurter Experimenta: »Könnt ihr denn nicht diese Aufführung erhalten? Es ist ein Musterbeispiel für DDR-Kunst, DDR-Schauspielkunst, Dramatik; das müsste man bewahren.« Da haben wir alle genickt und so. Aber es ist noch nicht dazu gekommen. Mittlerweile sind ja viele verstorben. Also das ist in Kurzform ein Bericht von Karl-Marx-Stadt und Bau.

Janine Ludwig: Also quasi schon als Dokument dieser Aufführung. Frau Schlewitt hat sie sogar gesehen als Studentin. Haben Sie da noch Erinnerungen dran?

Carena Schlewitt: Ich kann mich nur an die unglaubliche Energie erinnern, aber das war ja bei Castorf sowieso der Fall. Sie haben vorhin erwähnt, dass er in der einen Szene die Rolling Stones einsetzt – das hat eine emotionale Stimmung getroffen. Wir waren Studenten und es war eine wirklich junge Inszenierung, die uns sofort angesprochen hat.

Janine Ludwig: Hatten Sie das Stück vorher schon gekannt? Der Bau, von Müller?

Carena Schlewitt: Ja, wir haben das im Studium durchgenommen.

Janine Ludwig: Und haben Sie es wiedererkannt auf der Bühne? Herr Albiro sprach davon, dass es auf dem Fundament von Müller war. Der erste Satz des Stückes ist: »Warum zertrümmert ihr das Fundament?« Ich frage mich, hat Castorf das Stück zertrümmert, kann man das sagen?

Carena Schlewitt: Das kann ich so nicht sagen. Aber vielleicht auch, weil wir studentisch aus einer anderen Perspektive geschaut haben, gar nicht so analytisch, eher aus einem Lebensgefühl heraus. Eine genaue Erinnerung daran habe ich nicht mehr.

Janine Ludwig: Wollen wir die Erinnerung von Frau Koschwitz vielleicht dazu reinholen? Wollen Sie etwas dazu sagen?

Andrea Koschwitz: Vielleicht nur eine Sache, die sich in der Vorbereitung ergab – ich war ja nicht erst zur Konzeptionsprobe dabei, sondern auch schon in der Vorbereitung. Und da muss ich einen Punkt sagen: dass es schon sehr vorbereitet war, im Kopf. Und da muss ich den Literaturwissenschaftlern auch wirklich danken. Ich hatte eine Dissertation gefunden, in der es um das Problem des Verhältnisses von individuellem Helden und kollektivem Subjekt ging,1 und die hatte ich irgendwie in der ›Möwe‹ gefunden. Und da habe ich gesagt: »Hier, Frank, lies mal!« Er hat geantwortet: »Ganz schön dick«, hat sie genommen, hat sie durchgelesen und hat genau das inszeniert. Er hat den Weg inszeniert vom Kollektiv zum Individuum. Wir haben angefangen mit dem Bau, das war ja der große Eingriff letztlich, und das war vorgedacht, das war nicht improvisiert. Dann sind wir über den Auftrag zu Quartett gekommen. Es gab Ausschnitte aus Quartett und aus dem Auftrag. Er ist genau die dramaturgische Linie von Müllers Werk bis 1982 durchgegangen.

Das heißt, ich würde die Improvisation rein dramaturgisch sehen, in der Vorbereitung. Ich will nur sagen, die Arbeitsweise ist improvisierend und auch sehr interessant, aber er hat sich vorbereitet. Da sind immer diese Thesen von ihm, was er auf der Konzeptionsprobe so redet. Aber er hat dieses dicke literaturwissenschaftliche Buch gelesen und er hat gesagt: »Na dann müssen wir doch Auftrag und Quartett reinnehmen«, weil das Buch darüber ging.

Genau das ist ja die Idee, dass der Abend so lang war, weil wir nicht nur ein Stück spielten, sondern drei. Neben all den Improvisationen, die wir hatten. Also es war wirklich eine sehr spannende Arbeit und politisch war es natürlich ein Riesenproblem. Weil nicht nur einmal »Hätt ich gewusst, dass ich mein eignes Gefängnis bau …«, sondern das mindestens fünf Mal gesagt wurde. Es gab richtig extreme politische Debatten, und da war der Theaterverband wichtig. Aber auch die Parteigruppe, die einberufen wurde vor der Premiere, wo ich ganz klar gesagt habe: »Also das ist zutiefst gut, was wir hier machen und bitte keine anderen Diskussionen.« Und der Theaterverband genauso. Es gibt eine Dokumentation, wo man das auch alles nachlesen kann. Hier in der Akademie der Künste. Vielen Dank.

Hartwig Albiro: Gibt es die Fassung noch?

Andrea Koschwitz: Es gibt die Fassung noch. Ich habe damals eine Dokumentation angefertigt, und die gibt es in der Akademie der Künste. Da gibt es auch ein Video. Es ist eigentlich alles in der Theaterdokumentation erhalten.

Hartwig Albiro: Dann reduzieren wir die Improvisation auf die Arbeit mit den Schauspielern. Da hat sie ja dann wirklich stattgefunden. Der Frank hat dann bei der Konzeptionsprobe dieses umfangreiche Wissen nicht so rübergebracht. Ist ja auch egal. Er hatte das Vertrauen, er hat es gemacht, es lief ja.

Janine Ludwig: Ich bin zutiefst dankbar, dass Sie so ein schönes Beispiel bringen, wie wichtig Literaturwissenschaft sein kann. Wer hätte das gedacht? Da freuen wir uns alle, dass das jemand liest und dass es vielleicht sogar was ausmacht!

Vielleicht gehen wir damit direkt schon im Sprung zum nächsten Stück, was eigentlich natürlich in der Chronologie von Heiner Müllers Werk früher war. Nämlich der sehr frühe Lohndrücker, den Sie begleitet haben, Frau Schlewitt. Es gibt auch dazu ein dickes Buch, eine dicke Dokumentation, und es ist auch eine Beschreibung der Inszenierung enthalten.

Carena Schlewitt: Ich habe an der Akademie gearbeitet und war keine Dramaturgin wie Andrea Koschwitz. Ich habe aus einer anderen Position heraus diese Dokumentation gemacht. Meine damalige Chefin, Regine Hermann, die sehr engagiert war, sehr viel ermöglicht und mich auch immer sehr ermutigt hat, hat mir gesagt: »Jetzt machen Sie doch mal so ein Arbeitsheft.« Die Akademie hat ja die berühmten Arbeitshefte herausgegeben. Die sahen eigentlich weiß aus, mit blauer Schrift auf dem Cover. Darunter gab es auch Inszenierungsdokumentationen, Arbeitshefte zu Künstlern und Künstlerinnen, die im Theater gearbeitet haben.

Wir haben das mit dem Deutschen Theater besprochen, mit Alexander Weigel, dem Dramaturgen der Lohndrücker-Inszenierung. Es gab dann die Lösung eines zweiteiligen Arbeitsheftes. Es gibt Teil 1, die historische Dokumentation, und Teil 2, die Inszenierungsdokumentation. Ich habe in Vorbereitung des heutigen Abends Teil 2 wieder herausgeholt und darin gelesen. Die Realisierung dieser Dokumentation war ein ziemlicher Kraftakt. Man musste zu DDR-Zeiten um ein Papierkontingent kämpfen. Und es war ganz klar, dieses Heft sollte nicht mehr als 96 gedruckte Seiten haben. Dann haben wir noch 16 Seiten mit Farbfotos erkämpft. Wenn man die heute anguckt, sehen die aus wie Farbkopien. Aber wir waren total stolz.

Nun hatten wir aber am Ende ein Manuskript von ca. 400 Schreibmaschinenseiten. Grischa Meyer, der die Gestaltung gemacht hat, kam dann mit der entscheidenden Lösung, das ganze Material in Spalten unterzubringen. Ich erzähle das jetzt, weil ich beim Lesen nochmal auf die besondere Aufteilung gestoßen bin, die ganz absichtsvoll wirkt. Es gibt eine Spalte, das ist die Chronologie der Inszenierung. Dann gibt es Texte, die eine Rolle spielten im Arbeitsprozess, und es gibt Gespräche, die während der Inszenierung stattfanden, die Thomas Heise aufgenommen hat. Wir haben allerdings nur einen Teil der Gespräche abgedruckt. Das waren Gespräche mit dem Ensemble oder von Müller mit Weigel und Suschke usw. Auch Texte von Schauspielern über die Arbeit haben wir abgedruckt. All das haben wir sortiert und in Spalten abgedruckt. Dann war es Müller aber sehr, sehr wichtig, dass im Mittelteil nicht nur das Stück mit den Schwarz-Weiß-Fotos abgedruckt wird, die heute so langsam verblassen. Er wollte unbedingt, dass ich noch eine Inszenierungsbeschreibung liefere, die ohne Interpretation beschreibt, was in welcher Szene adäquat zum Stücktext und Foto passiert. Ich weiß gar nicht, ob wir eine Videodokumentation haben. Ich müsste Thomas Heise nochmal fragen. Vermutlich hat er noch Material, aber seitens der Akademie gibt es meines Erachtens nichts.

Janine Ludwig: Wollte er gerne so ein Brecht’sches Modellbuch haben?

Carena Schlewitt: Er hat das nicht so formuliert, aber es war ihm ganz wichtig, dass die Inszenierung (fast) objektiv sachlich, formal beschrieben ist. Vielleicht hatte das auch mit seiner Intention dieser Inszenierung zu tun. Müller war natürlich klar, was er tut, wenn er ein so frühes Stück in den 1980er-Jahren noch einmal auf die Bühne hievt. Der Arbeitsprozess hat 1987 begonnen, die Premiere fand im Januar 1988 statt. Die Frage ist doch: Warum wollte Müller das Produktionsstück in dieser Zeit machen? Das hatte natürlich mit Glasnost und Perestroika zu tun, mit dem Zurückgehen auf das Fundament: ›Wo liegt eigentlich das Grundproblem dieser Gesellschaft und was kann man noch tun?‹ Bei allen weltanschaulichen Fragen spielte die Ökonomie von Anfang an eine entscheidende Rolle. Eigentlich war bereits seit 1917 klar, dass sich der Sozialismus/Kommunismus in einem ökonomischen Wettrennen befindet und am Ende ist die Frage: Wer gewinnt. Das war Müller extrem wichtig in dieser Inszenierung, die er wie einen grauen Monolithen in das schnörkelige Deutsche Theater gesetzt hat.

Von Anfang an spielte das Schweigen im Lohndrücker eine große Rolle. Gemeint war nicht nur das Schweigen in den Pausen, sondern das Schweigen, das unter der Sprache liegt, das Unausgesprochene. Dieses »Wegrücken« von der DDR-Realität oder von den Geschichten, das war ein ganz wichtiger Punkt. Und hier spielten auch die unterschiedlichen Theatersozialisationen eine Rolle: In dem Stück haben Volksbühnenschauspieler und Schauspieler des Deutschen Theaters gespielt, die sehr unterschiedliche Spielweisen mitgebracht haben. Das war auch Thema in den Gesprächen. Wie nähert man sich den Rollen?

Beispielsweise haben Horst Hiemer und andere, die das Stück in Leipzig gespielt hatten, gesagt: »Ja, aber ich verbinde doch damit eine Geschichte und das ist auch wichtig, dass wir unsere Geschichte erzählen.« Heute müsste man es vielleicht gerade wieder mit den eigenen Geschichten verbinden. Aber damals war es Müller ganz wichtig, das »Menschelnde« wegzunehmen. Er hatte bereits seine Inszenierungserfahrung mit Michael Gwisdek, Hermann Beyer und Dieter Montag an der Volksbühne gemacht. Die Frage war, wie geht man mit dem Stoff und seiner historischen Dimension auf der Bühne um? Müller wollte eine starke Setzung für den Bühnenraum – weit, weit weg von uns – und dafür hat er den Bühnenbildner Erich Wonder aus Wien engagiert. Während des Arbeitsprozesses stellte sich heraus, dass dieses abstrakte Bühnenbild mit starker Symbolik und einer formalen Setzung die Spielweise stark definiert. Müller hat auch Fritz Marquardt zu den Proben eingeladen und sie haben darüber geredet, wie man mit dieser oder jener Szene konkret auf dieser Bühne umgehen könnte. Es gibt auch ein Gespräch über das Bühnenbild, da beschreibt Müller die Bühnenbilder von Hans Joachim Schlieker an der Volksbühne, die anarchistisch waren und eine ganz andere Bildsprache hatten. Wonders Bühnenbild beschreibt er fast so, als sei es ein Industrieprodukt, das er da abgeliefert hat. Diese Spannung, die Müller da beschreibt, ist mir damals nicht so aufgefallen.

Janine Ludwig: Wenn ich diesen Punkt nochmal aufgreifen darf und wir uns da vielleicht zum Anfang und zum Ende gleichzeitig vorarbeiten: Das ist ja doch faszinierend, dass wir zwei Stücke haben, die eigentlich aus der Phase der sogenannten Produktionsstücke stammen, also aus dem Aufbau des Sozialismus. Produktionsstücke meint ja mehr als nur Geschichten aus der Produktion im Sinne von Brigadestücke, wie das auch genannt wurde, sondern meint ja Produktion im umfassenderen marxistischen Sinne, von künstlerischer Produktion über Reproduktion bis hin zum Aufbau des Sozialismus eigentlich. Dass zwei solche Stücke dann in der Endphase oder fast schon Zerfallsphase der DDR inszeniert werden, und zwar mit Absicht, ist bemerkenswert. Ich erinnere an das berühmte Zitat von Müller über den Lohndrücker, dass er selber sinngemäß sagte: »Lohndrücker ist die Inszenierung eines Krankheitsbildes. Der Text wusste mehr als der Autor.« Das ist vielleicht ein Punkt, über den Sie beiden noch ganz kurz was sagen können. Wenn ich ganz uncharmant auf ihr Alter hinweisen darf, Hartwig Albiro, erinnern Sie sich doch noch an die Aufbaujahre der DDR.

Hartwig Albiro: Aber natürlich mit Unterschieden. Ich habe ja den Krieg überlebt, bin in der Weimarer Republik geboren, habe in der Nazizeit meine Jugend verbracht. Ein Vierteljahr amerikanisch besetzt, und dann die sowjetische Besatzungszone, dieser Aufbau-Elan. Das war erst einmal ein Überleben, die Kriegstrümmer wegräumen, und nie wieder Krieg, diese Losung. Eigentlich war der Aufbau – jetzt rede ich mal von mir – einer sozialistischen Gesellschaft relativ früh klar für mich. Auch die Haltung: Nie wieder so wie bei den Nazis, es muss was anderes geben. Dazwischen regierte Stalin natürlich eine ganze Weile, bis ’53. Aber dann gab es schon insgesamt, würde ich mal so sagen, bei allen Niederlagen und Schwierigkeiten immer die Hoffnung, den Versuch, ein Fundament des Sozialen aufzubauen, aber nie mit den Strukturen einer Bürokratie oder gar mit einer stalinistischen, marxistischen Haltung. Die Schwierigkeiten kamen nicht von denen, die es machen wollten, sondern von denen, die es von oben leiteten.

Dann kam die Planwirtschaft, und da gab es viele Ärgernisse, und wir hatten die Zensur als Hauptfeind, wenn man so will. Die Tätigkeit im Theaterverband bestand auch darin, Mittel und Wege zu finden, Stücke spielen zu dürfen, sie an der Zensur vorbei zu ermöglichen, die eigentlich nicht so auf der Wunschliste standen. Karl-Marx-Stadt unter Meyer hatte auch ein großes Verdienst an junger Sowjetdramatik. Wir haben den Wampilow gemacht und Rostschin. Also Müller und Castorf standen auch in einer gewissen Tradition, nicht der Aufbaustücke der DDR, aber Aufbau für eine bessere Gesellschaft und Humanismus.

Ich würde gern mal über Bilder sprechen, nochmal ganz schnell ein Bild beschreiben, von der Castorf-Inszenierung vom Bau. Die Schlusslösung ist ein Bild, was beeindruckend war und immer noch ist, für mich. Die Darsteller versuchen mit Zeitungen das Fundament, das da wackelt und bröckelt – wenn Sie so wollen: die ganze DDR-Planwirtschaft –, zu halten. Die Zeitung war das Neue Deutschland, die SED-Zeitung, und mit dieser Zeitung versuchen sie es zu bedecken. Es kommt ein Sturm auf, ein Wind, und der Wind bläst die Zeitungen weg und sie versuchen, die Zeitungen festzuhalten, indem sie sich auf sie legen. Mit körperlichem Einsatz und mit dem Neuen Deutschland versuchen sie, das Fundament zu retten und dann geht das Licht aus und der Vorhang zu. Das ist der Schluss. Und das war einer der offenen Castorf-Schlüsse (so wurde das damals genannt). Ganz starkes Bild. Ah, jetzt kommt ein Einwand …

Andrea Koschwitz: Dieses Bild bezieht sich auf eine Textstelle im Bau bei Heiner Müller, den Castorf sehr genau gelesen hat. »Da ist Frost im Beton« und davor muss man die Fundamente schützen.

Janine Ludwig: Aber schon mit einer Zeitung?

Andrea Koschwitz: Am Anfang der Spielszene mit einer Zeitung und dann mit dem Körper der Protagonisten. Die Szene mit den Zeitungen ist aus Heiner Müllers Text entstanden und die Menschen haben sich im Verlauf der Szene dann auch mit ihren Körpern auf die Zeitungen gelegt. Also es war nicht nur die Zeitung. Die Spieler haben versucht, mit ihren Körpern die Fundamente zu retten. Sie wollten gegen den Wind die schützenden Zeitungen festzuhalten.

Hartwig Albiro: Ich lege mich ungern mit der Dramaturgin an, aber sind nicht beim Bau die letzten Worte die von der Schlee?

Andrea Koschwitz: Ja, die »Fähre«, aber das Bild fängt an mit der Textzeile: »Frost im Beton.«

Hartwig Albiro: Ah, ja.

Andrea Koschwitz: Ich will ja nur beschreiben, dass die Szene aus der Lektüre des Müllertextes entstanden ist: aus einem genauen Lesen des Stücktextes vom Regisseur Castorf und nicht aus der Improvisation.

Hartwig Albiro: Es ist ein Verdienst von Müller und Castorf.

Andrea Koschwitz: Ja, es ist nur wieder so ein Beispiel, wie genau er das Stück gelesen hat

Janine Ludwig: Also, das vorletzte Wort hat Donat, der sagt: »Kommunismus aus der Hand? Was geht hat den Weg an den Schuhn. Was willst du, ist ein Fundament gerissen, brennt ein Kühlturm, ist ein Stern entgleist?« und Schlee antwortet: »Wer braucht die Sterne? Ich werde also lügen für dich und das ist die Wahrheit: dein Kind wird keinen Vater haben, wir werden uns mit Genosse anreden, wie vorher, ich werde den Vogel nicht einscharren, der im Frühjahr singt, du wirst die Sonne nicht aus dem Himmel reißen, der Schnee wird nicht liegenbleiben bis zum nächsten Winter.« Das ist es.

Hartwig Albiro: Es gibt allerdings auch verschiedene Fassungen.

Janine Ludwig: Vielleicht muss man nochmal dazu sagen, es gibt sieben verschiedene Fassungen von Bau. Als sozusagen kanonisch gilt immer die vierte Fassung, die auch veröffentlicht worden ist, auszugsweise, in Sinn und Form. Auf die sich dann auch Honecker berufen hat, als er zitiert hat, aus dem Bau, ganz leicht daneben, aus einer älteren Formulierung: »Ich bin die Fähre zwischen Eiszeit und Kommunismus.« Da hat er Barka zitiert – »Ich bin / Der Ponton zwischen Eiszeit und Kommune« und das ganze Stück als ein besonderes Beispiel für Konfliktsucht und negative Darstellung angeführt.

Wenn wir bei dem Fundament sind und bei dem Schutz des Fundamentes. Wenn ich Sie fragen darf, aus einer ganz anderen Generation: Als sie 1988 den Lohndrücker begleitet haben, haben Sie dann noch den Aufbauenthusiasmus, von dem Müller behauptet, er habe ihn schreiben wollen, sehen können, oder nur das Krankheitsbild? War das für Sie in der Wahrnehmung schon ein Stück über das Ende der DDR, schon der Verfall, oder wie haben Sie das gesehen?

Carena Schlewitt: Wenn ich den Text so höre und sehe wie damals ’88, habe ich natürlich die Schere im Kopf: Einerseits der Verweis auf diese Aufbauzeit, die ja nicht meine Zeit war, sondern die meiner Eltern und andererseits die Zeit, wie wir sie Ende der ’80er-Jahre gefühlt haben. Ich kann mich an die Zeitungszene auch erinnern und an diese körperliche Bewegung, die da drinsteckte. Bei Müller war es ja fast festgefroren, das Bild. Mein Bild zu dieser Zeit ist ein riesiger Topf Sirupbrei, in dem wir alle feststeckten. Dieter Montag, der den Balke spielte, war ja fast zum Denkmal erstarrt als Arbeiterheld und Aktivist. Er hat wenig agiert und wenn er was gemacht hat – da reichte eine Kopfwendung oder ein Blick –, bekam das eine große, überzeichnete Bedeutung.

Es gab auch noch eine Gaze vor dem Bühnenraum, so dass man dadurch bereits entrückt war, eine Distanz hergestellt war. Erich Wonder hat am hinteren Bühnenhorizont diese Schlitze aufgemacht, durch die man Ostberlin sehen konnte. Perspektivisch ging es hinten in die Breite, aber die Sicht darauf war distanziert. In dem Zusammenhang muss ich auch noch erwähnen, dass Heiner Müller, Alexander Weigel und Erich Wonder ganz stolz darauf waren, das Portal des Deutschen Theaters aufzuheben, »unsichtbar« zu machen und den Bühnenraum nach vorn in den Zuschauerraum zu ziehen. Und zum Schluss wurde ein Riesen-Prospekt heruntergelassen, auf dem das Publikum zu sehen war. Das wäre heute keine Sensation mehr, aber damals war das neu, das Publikum in dieser Form mitzudenken und abzubilden.

Diese Setzung hatte auch etwas damit zu tun, dass die Volksbühne per se ein anderes Theater war, auch früher schon in Ostberlin, als das Deutsche Theater, das auch noch so schön renoviert war – ein richtiges Schmuckkästchen. Irgendwie war es Müller auch fremd, in diesem Raum Theater zu machen.

Einwurf aus dem Publikum: Glut, gab es auch wie aus einem Ofen!

Carena Schlewitt: Auch der Hochofen war stilisiert dargestellt.

Einwurf aus dem Publikum: Das ist auch so eine rätselhafte Stelle, wie er immer glüht und …

Carena Schlewitt: Ja, am Anfang war es noch ein Panzer und am Ende war es dann dieser Ofen. Es gab auch diese eine Szene, wo sie mit den Köpfen da rausgucken.

Ich hätte noch eine Stelle, die ich gerne kurz vorlesen würde. Ich zitiere Müller, wo es um die Disziplinierung der Arbeiterklasse geht. »Und das ist eine Möglichkeit, das Stück zu beschreiben. Die deutsche Arbeiterklasse ist durch den Faschismus diszipliniert worden, durch den Krieg, durch die Rüstung. Und diese Disziplin konnte benutzt werden, jetzt für den Wiederaufbau. Das DDR-Problem ist nur diese Disziplin. Die lässt sich jetzt nicht mehr benutzen zur Demokratisierung. Das ist das Problem, nicht nur der DDR, weil eine moderne Industrie kann man nicht nur mit Disziplin betreiben, da braucht man Kreativität und Leute, die das Gefühl haben, dass sie ihre Kreativität auch einsetzen können und insofern ist es eine ganz aktuelle Archäologie, die Beschäftigung mit dem Stück, deswegen wollte ich das auch jetzt machen, aber nicht einfach aus Nostalgie, weil das das erste publizierte Stück ist. Es ist das aktuellste im Moment, glaube ich.«

Janine Ludwig: Das hätte ich nicht besser überleiten können. Zu dem Stichwort nämlich: das Theater und 1989, das Theater und das Ende der DDR. Wir haben schon einiges gehört über diese Rolle. Zum Beispiel, dass die sogenannte Provinz der Zensur mehr entgegenstellen konnte, als es teilweise in Berlin der Fall war. Und da würde ich gern ganz kurz auf die Rolle des Theaters in Karl-Marx-Stadt 1989 zu sprechen kommen. Da haben Sie [Albiro] ja eine nicht unerhebliche Rolle gespielt. Ich erinnere an den Schweigemarsch am 7. Oktober, am Tag der Republik 1989. Also vielleicht könnten Sie da den Gedanken weiterspinnen.

Hartwig Albiro: Also … Bremsen Sie mich aber dann! Perestroika war das Stichwort – spätestens ab ’85 schlug die kritische Solidarität mit der Partei und Staatsführung der Theater – ich rede jetzt mehr so von mir – um in Unverständnis, warum man die Chance nicht nutzen kann. Und je mehr die Zivilgesellschaft erstarrte, desto mehr versuchten wir das aufzubrechen. Das waren schon diese letzten Jahre der DDR. Und ich kann mich auch erinnern, dass wir Erfolge feierten, weil die Stücke von Müller plötzlich gespielt werden konnten, die vorher nicht möglich waren. Wir hatten Tricks gefunden – das führt jetzt alles zu weit – wie wir die Zensur umgingen. Also es war ein Weg. Und natürlich kam dann ’89 eine Situation, als Ungarn die Grenzen öffnete und die DDR-Jugend wegrannte.

Ich hatte als Studenten da den Hasko Weber, jetzt Intendant in Weimar, und der war ganz aktiv mit einer jungen Gruppe von Studenten und der Theaterhochschule, die im Studio Karl-Marx-Stadt waren. Und die organisierten sich und wir hatten dann mit [Gerhard] Meyer einen Dreh gefunden, die ganze Truppe zu behalten. Und die haben die ›Dramatische Brigade‹ gegründet, mit dem Versuch, eine freie Gruppe in der DDR zu installieren. Und Hasko Weber wollte mit seinen Studenten bestimmen, was und wie sie spielen. Das haben wir garantiert. Ich war parteilos, aber Meyer war Genosse. Wahrscheinlich hat er doch noch die Verantwortung übernommen. Und das war eine Truppe, der sehr aufmüpfig war. Im Frühjahr ’89 kamen die Wahlen, alles, die Gesellschaft, war in Bewegung und wir fühlten uns als Theater in der Verantwortung, mehr zu tun, als nur Theater zu spielen. Das kulminierte dann auch mehr und mehr in den Aufführungen und hatte dann natürlich am 7. Oktober den Höhepunkt.

Wir, und da spielte Hasko Weber wieder eine Rolle, sollten einen Beitrag zum 40. Jahrestag der DDR bringen. Da dachten wir, den Schnulli machen wir nicht mit, so irgendwelche Schönwetterparolen verkünden: Wir verlesen Texte vom Neuen Forum, Texte von Volker Braun und Texte kritischer Autoren. Das Programm wurde überraschenderweise genehmigt im ersten Anlauf. Wahrscheinlich hatten die Genossen das nicht richtig gelesen. Dann wurde es aber folgerichtig verboten und wir durften das nicht aufführen. Aber die Zuschauer waren da im Luxor, der Spielstätte des Musiktheaters, und die wollten das hören – ich muss mich jetzt wirklich kurzfassen.

Es kam zu wüsten Beschimpfungen, weil Hasko gesagt hatte: »Es stimmt nicht, dass wir die Vormittagsmatinee schließen wegen Überfüllung« – das war das Argument, was Meyer vorzubringen hatte, und da hat Hasko gesagt: »Nein, wir dürfen die Texte nicht sprechen.« Und da ging natürlich was los, 70 anwesende Stasimitarbeiter pöbelten, dann trat die Kirche auf: Bei uns dürft ihr, usw. Ich habe den Saal dann beruhigt. Danach sind wir rausgegangen. Da ist der Schweigemarsch entstanden. Vom Luxor sind wir schweigend am 7. Oktober durch die Stadt gezogen und wurden mit Wasserwerfern und Gummiknüppeln auseinandergetrieben.

Das war der Punkt, wo wir gesagt haben, jetzt reicht es. Bis dahin wollten wir den Dialog mit den Oberen, aber jetzt machen wir unseren Protest öffentlich. Es gab bereits eine Resolution, im Theaterumlauf hatten 170 Leute unterschrieben, die die Missstände anprangerten, und Dialog und freie Meinungsäußerung forderten zum Wohle der Gesellschaft. Und da spielte das Schauspiel eine wesentliche Rolle.

Als dieser 7. Oktober war, hatten wir ein Gastspiel vom Staatsschauspiel Dresden, mit Nina, Nina, tam kartina, ein hochpolitisches Stück von Granin. Wir hatten uns versammelt, wir waren alle im Theater, weil die Dresdner Kollegen spielten, und meine Schauspieler sagten, wir müssen die Resolution verlesen und alle guckten mich an. Da habe ich einen Moment überlegt, dann habe ich gesagt: »Ja, ich mach’ das.« Ich bin nach der Vorstellung raus und habe diese Resolution – wenn man sie heute liest, ist es ein Lacher, damals war es hochgefährlich – verlesen. Die Dresdner haben gesagt, wir schließen uns dieser Resolution an. Schönemann, mein Amtskollege, hat mich umarmt auf der Bühne. Die geballte Kunst war im Saal auf der Bühne: Die gesamte Mannschaft aus Karl-Marx-Stadt, die Dresdner waren da, wir waren etwa 150 Leute auf der Bühne und 400 im Zuschauerraum. Eine solche Einheit von oben und unten habe ich selten erlebt, das war ein Beifallssturm, eine standing ovation. Zwei Reihen blieben sitzen, das waren die Protokollreihen. Und das war, wenn man so will, der Beginn der friedlichen Revolution in Karl-Marx-Stadt.

Kurze Episode noch, weil sie so schön ist. Ich wurde ins Rathaus einbestellt, und mir und meinen Schauspielern wurde untersagt, wieder diese Resolution zu verlesen. Am nächsten Abend war ja wieder Dresden da, und natürlich wollten wir es wieder machen. Da bin ich ins Theater, und alle warteten, »Was ist denn nun, was machen wir denn?« Da habe ich gesagt: »Ich habe Weisung, es nicht mehr zu tun« – wir waren ja angestellt bei der Stadt, wenn man so will – »und ihr sollt auch nicht«, und da sagte Anne Mechling, die Dramaturgin: »Sie gehen mal raus, das regeln wir jetzt unter uns.« Dann war ich im Zuschauerraum, und was passierte am Abend nach der Vorstellung? Alle wieder auf der Bühne, und diesmal haben die Dresdner die Resolution in der Hand gehabt und haben gesagt – übrigens der Parteisekretär der Schauspielgruppe Dresden hat das verlesen – »wir verlesen jetzt eine Resolution unserer Karl-Marx-Städter Kollegen und wir schließen uns vollinhaltlich an.« Da haben die die Resolution gelesen, und wir haben die Weisung eingehalten, und die Resolution war ein zweites Mal da.

Dann kam aber relativ schnell Honeckers Ablösung. Ich stand zwar auf der Liste, aber ich habe nicht eingesessen. Bin gut davongekommen.

Wir haben ganz viel gemacht, also nach jeder Vorstellung verlesen, diesen Aufruf für einen demokratischen Sozialismus. Es gab Zuschauergespräche nach jeder Aufführung. Es ging gar nicht mehr ums Stück, es ging um die politische Lage. Das ging etwa so bis November, Dezember, dann übernahmen die gegründeten Parteien, und die Medien waren offen. Dann haben wir uns wieder auf Kunst besonnen. Ich denke mal, so war es nicht nur in Karl-Marx-Stadt, so war es in Plauen, in Dresden ganz besonders, auf den Schauspielbühnen der DDR. Es gibt die Formulierung: »Die Bühnen wurden zu Tribünen des Volkes.« Das ist eine wichtige Zeit, die möchte ich nicht missen. Herbst ’89.

Janine Ludwig: Vielleicht können wir parallel nach Berlin schalten, was so zu dem Zeitpunkt in Berlin lief oder geprobt wurde. Müllers Hamlet/Maschine. Haben Sie das auch noch verfolgt?

Carena Schlewitt: Ja, das habe ich zum Teil auch verfolgt. Vielleicht noch eine kurze Anmerkung: Ich war ja nicht am Theater, ich war an der Akademie der Künste und in diesen Jahren ereignete sich viel in Ostberlin – trotz des erwähnten Stillstandgefühls. Es gab zum Beispiel »Zinnober«, die einzige richtig freie Theatergruppe im Prenzlauer Berg, die auffallend andere Theatertexte geschrieben und performt hat und die dann recht schnell verboten wurde. Diese Gruppe und ihre Ästhetik waren eine absolute Entdeckung, aber natürlich auch »gefährlich«, weil ihre Texte ganz persönliche Texte waren und zugleich metaphorisch in Bezug auf die Situation im Land verstanden werden konnten. Die haben sich zum Beispiel mit Träumen beschäftigt in ihrem exemplarischen Stück traumhaft, das sie in einem besetzten Laden am Kollwitzplatz etwa vier Mal gespielt haben – dann wurden sie verboten. Da habe ich versucht, mithilfe der Akademie dieses Verbot wieder aufzuheben, und ich wollte damit aber auch eine grundsätzliche Legitimierung für freie Gruppen in der DDR erreichen. Ich hatte ein Schreiben an das Kulturministerium vorbereitet, das kam vom damaligen Akademie-Präsidenten Manfred Wekwerth stante pede zurück. Es sollte erstmal nur um die Aufhebung des Verbots für »Zinnober« gehen, damit sie als Puppentheater wieder auftreten können und ins Ausland fahren dürfen zu einem Festival nach Holland, was dann auch geklappt hat.

Eine andere Geschichte hängt mit dem Vorhaben der Gründung eines Autorentheaters zusammen: Irina Liebmann, Gregor Edelmann, Werner Buhss, Peter Brasch und andere Autoren und Autorinnen der jüngeren Generation hatten diese Idee für Ostberlin entwickelt. Auch da war die Akademie beteiligt. Manchmal konnte die Akademie auch eine gute Plattform sein, mit einigen aktiven und offenen Akademiemitgliedern, die wir angefragt haben. »Unterstützt ihr das? Macht ihr da mit?« Beim Autorentheater gab’s dann aber sehr schnell einen Stopp – von ganz weit oben. Die Initiative wurde beendet. Die ’80er-Jahre waren eine Zeit, in der es durchaus Aktivitäten gab, eine andere Kreativität ins Theater zu bringen.

Zum 40. Jahrestag der DDR habe ich mir eine spezielle Veranstaltung für die Akademie überlegt. Ich war auf das Film-Material der Volksbühne aus der Zeit von Benno Besson gestoßen. Es gab diese Filme, die im Keller vom Kino Babylon lagen. Teilweise waren einige Filme schon durch einen Wasserschaden zerstört. Aber es gab noch genug Material. Wir hatten in der Akademie einen Schneidetisch und auch einen Filmvorführer, und wir hatten Zeit. Ich habe diese ganzen Filme anliefern lassen – das war eine LKW-Ladung voll – und habe einfach tagein, tagaus Theater-Filme geguckt und sortiert. Das war natürlich auch mein Interesse und ich war einfach begeistert, dass es diese ganzen Filmaufnahmen noch gibt – aus einer Zeit, die ich nur aus dem Studium kannte.

Ich habe damit eine Veranstaltung zum 40. Jahrestag der DDR konzipiert. Die fand aber nicht im Oktober statt – ich vermute mal, da gab es einen Festakt in der Akademie –, sondern sie fand im November statt, und zwar nach dem 4. November, dem Tag der Demo auf dem Alex. Diese neue Umbruchszeit hat sich natürlich im Veranstaltungssaal unter den Besuchern bemerkbar gemacht. Noch im Oktober wäre es eine andere Veranstaltung gewesen, mit ganz anderen Besuchern. Jetzt spielte sich einfach alles draußen ab. Für mich war es dennoch toll, dass ich mich auf diese Weise mit der Volksbühnenzeit unter Benno Besson beschäftigen konnte.

Ich habe da verschiedene Filme gezeigt: über die berühmten Volksbühnen-Spektakel, über Die Bauern von Fritz Marquardt, Die Schlacht von Manfred Karge/Matthias Langhoff, das Lehrstück Die Ausnahme und die Regel im VEB Narwa (das gab es dann auch später als VHS-Kassette) und andere. Leonce und Lena von Jürgen Gosch gab es nicht vollständig, nur Versatzstücke. Daraus wurde dann ein Zwanzig-minüter zusammengeschnitten, den wir auch präsentiert haben. Wir haben einfach ein Filmprogramm der verschiedenen Inszenierungen und Spektakel zusammengestellt. Das würde ich jetzt selber gerne nochmal sehen. Ich weiß nicht, wo die Filme geblieben sind. Sie waren noch lange im Archiv der Volksbühne.

Einwurf aus dem Publikum: Das Archiv von der Volksbühne müsste eigentlich in die Akademie gewandert sein.

Carena Schlewitt: Ich muss sagen, die Zeit war einerseits relativ offen, man konnte bestimmte Veranstaltungen gut machen, andere waren nicht möglich. Ich wollte beispielsweise für einen Workshop mit Schauspielstudenten Anatoli Efros aus Moskau einladen. Darauf ist Manfred Wekwerth nicht eingegangen, mit der Begründung: »Nee, wir wissen jetzt nicht, was da in der Sowjetunion mit Glasnost und Perestrojka los ist. Wir beschäftigen uns jetzt mal lieber nicht damit.« Das war die Antwort. Damit war das Projekt gestorben. Also einiges ging, anderes ging nicht, wie es so war.

Janine Ludwig: Im Grunde kann man zusammenfassend sagen: Es war eine sehr turbulente Zeit mit sehr viel positiver Energie, viel Kreativität und im Grunde nochmal so einem Aufbauenthusiasmus von etwas, was da vielleicht ein zweites Mal aufgebaut werden sollte.

Carena Schlewitt: Aufbauenthusiasmus weiß ich nicht …

Janine Ludwig: War es mehr ein Zerfall?

Carena Schlewitt: Die Zeitschrift Sputnik wurde zum Beispiel verboten und all diese Geschichten. Wir haben immer wieder gedacht: Nee, also die kapieren es einfach nicht. Diesen Aufbruch hat es in der Sowjetunion gegeben – glaubten wir. Heute wissen wir auch nicht so genau, wie weit Gorbatschow damals gekommen ist. Aber bei uns in der DDR gab es Glasnost und Perestrojka nicht – da gab es eine Blockade der Partei und Regierung. Aber es gab eben auch viele Parteimitglieder, die für Veränderungen im Sinne Gorbatschows eintraten.

Janine Ludwig: Ich meinte jetzt diese kurze Phase, als bei vielen Menschen der Glaube bestand, man könne jetzt die DDR reformieren, oder was Neues aufbauen, bevor sie komplett zusammenbricht.

Hartwig Albiro: Unbedingt! Vielleicht war es in Karl-Marx-Stadt anders, als in Berlin, weiß ich nicht. Aber wir sind angetreten, nicht die DDR abzuschaffen, sondern sie wirklich zu reformieren. Das ist natürlich geschichtlich betrachtet heute obsolet, wahrscheinlich ging es nicht. Das ist eine andere Sache. Aber die Träume … ich bin ganz sicher, dass vieles, was die Theaterleute, aber nicht nur, auch die Kirchen und die Bürgerrechtler und auch die Arbeiter geträumt haben – ich rede aber nur vom Oktober und November –, diesen Traum einer humanen Zukunft, einer sozialen Zukunft, den haben wir wirklich geträumt. Und nicht sofort den Beitritt zur Bundesrepublik. Es hieß auch: »Wir sind das Volk«. »Wir sind ein Volk« kam später. Und wir, also die Truppe, mit der ich zusammen war – es waren schon nicht wenige –, wir wollten die Souveränität eines sozialistischen Staates, der sich dann vereint mit dem anderen deutschen Staat zu einer Einheit, und nicht den Beitritt. Das war das Ziel, und die erkämpften freien Wahlen brachten dann leider die Ernüchterung. Weil Kohl mit der D-Mark stärker war als die Sehnsucht, als der Wunsch nach einer sozialen Demokratie.

Janine Ludwig: Aber auf welchem Fundament war das gedacht? Also hätte das dann ein vereinigtes sozialistisches Deutschland sein sollen? Wie hätte man sich das vorgestellt?

Hartwig Albiro: So weit haben wir nicht gedacht.

Janine Ludwig: Ich frage nur vorsichtig nach.

Hartwig Albiro: Ein demokratisches. Zumindest nicht die –

Janine Ludwig: Haben wir denn kein demokratisches heute?

Hartwig Albiro: Doch. Ja, ja. Aber wir wollten nicht den Beitritt zur Bundesrepublik. Wir wollten als souveräne Partner auftreten. Aus eins und eins sollte zwei werden, und nicht aus eins und eins sollte eins werden. So war der Wunsch.

Janine Ludwig: Waren da viele Debatten über Beitritt oder Vereinigung, also nach welchen Paragraphen?

Hartwig Albiro: Das war kein Thema. Das Thema war Redefreiheit, Meinungsfreiheit, Reisefreiheit. Und der Fall der Mauer war eigentlich eine logische Konsequenz. Der hat mich gar nicht so überrascht. Ich gehörte zu denen, die das erwartet haben früher oder später. Aber eigentlich mehr die Durchlässigkeit, nicht so lawinenartig, wie es dann kam. Wir hatten schon einen Traum, das würde ich mal so sagen.

Janine Ludwig: Also ich weiß es nicht mehr so genau. Ich könnte es so ganz klar nicht mehr sagen aus der jüngeren Generationenperspektive, dass das ein Traum war. Für mich ging es auch alles zu schnell.

Carena Schlewitt: Ich würde sagen, es gab eine Hoffnung. Aber ich kann mich erinnern, dass diese immer wieder sehr schnell eingeholt wurde.

Hartwig Albiro: Ja, das ist wahr. Die Verluste kamen schnell, und die Änderungen waren gewaltig. Täglich.

Carena Schlewitt: Man muss auch sagen, eine wirkliche Vorstellung davon, wie dieses demokratische neue Konstrukt aussehen sollte, gab’s nicht. Es gab erstmal die Haltung gegen das alte System.

Einwurf aus dem Publikum: Es gab schon konkrete Vorstellungen. Gerade am Runden Tisch wurde im April 1990 der Entwurf einer Verfassung verhandelt und der wurde in den Beitrittsverhandlungen zur Seite geschoben.

Einwurf aus dem Publikum: Ich wollte eigentlich nur mal zu dieser Frage des Wir kommen, oder diesen ganz unterschiedlichen Wirs. Vorhin hast du ja, Carena, nochmal Müller zitiert, das Zitat mit der Arbeiterklasse. Er hat in dieser Art von Wir eigentlich keine Zukunft gesehen. Er macht einen kurzen geschichtlichen Abriss auf und sagt: Die sind geprägt durch den Faschismus. Das hat als Disziplinierung für den Aufbau gereicht. Das reicht aber nicht mehr für einen neuen Aufbruch und für Demokratie. Dieser Strang steht erstmal so im Raum. Das andere ist das Wir, dem Müller ja auch sehr früh misstraut hat. Dieses »Wir sind das Volk.« Müller ist der einzige, der schon zu der Zeit reagiert hat und ein anderes Zitat einer Demo verwendet hat: »Ich bin Volker.« Und er hat auf Brecht verwiesen, auf den Terminus Bevölkerung und hat gesagt, das ist nicht mein Volk. Jetzt gibt’s so langsam die ersten Stimmen, die tatsächlich auch zweifeln. Was hat dieser Slogan alles impliziert, welches Wir hat er für einen Moment gebildet? Es gab diese unterschiedlichen Wirs. Was war dieses »Wir sind das Volk«? Und hatte das Wir der Kulturschaffenden ein Fundament? Auch das ist eine Frage. Wie weit geht dieser Kreis, was sind das für Wirs?

Janine Ludwig: Ich würde das genau bei diesem dritten Sprung, den wir noch machen wollen, betrachten, nämlich dem Sprung in die Jetztzeit und zu der Frage, ob die Art und Weise, wie die Dinge sich dann fortgesetzt haben nach ’89, noch eine Grundlage oder Gründe geliefert hat, für das, was heute ist, also ob man das irgendwo herleiten und die Folgen davon noch spüren kann.

Das können wir natürlich auch gerne mit dem Publikum zusammen besprechen. Aber mit dem Wir, die Frage würde ich gerne aufgreifen, und auf diese Idee eingehen. Wir haben ja vorhin davon gesprochen, dass das Theater eine besondere Rolle hatte in der DDR, Literatur allgemein. Wir wissen es alle, »Leseland«, »Literaturgesellschaft«, »Ersatzöffentlichkeit«, all diese Dinge. Und es war ja auch gerade die Kultur oder die Intelligenzia, die vielleicht am Anfang einen großen Anstoß gegeben hat und dann noch gedacht hat, mit diesem Aufruf »Für unser Land« am 26. November 1989 diese Veränderungen begleiten zu können und da aber eigentlich schon überrollt wurde von einem anderen Wir, also von dieser größeren Masse, die eigentlich da gar nicht mehr mitgegangen ist. Müller hat das genannt: »die Trennung der Künstler vom Volk durch Privilegien«, die gelungen sei, und dazu geführt habe, dass diese Vorreiterrolle oder Sprecherrolle dann nicht mehr funktioniert habe. Möchten Sie dazu was sagen, oder wollen wir einfach auf Fragen des Publikums eingehen?

Hartwig Albiro: Zum Herbst ’89 noch?

Janine Ludwig: Zu dieser Trennung der Intellektuellen von der Mehrheitsströmung, die sich relativ schnell abzeichnete in der Bevölkerung, die eben diesen Träumen leider nicht gefolgt ist: Was heißt »leider« aus Ihrer Sicht? Haben Sie das wahrgenommen? Sie sprachen doch vorhin von diesem beglückten Moment der Einigkeit im Theater zwischen Schauspielern, Publikum und allem. Dieser Moment war ja ein kurzer, und irgendwann hat man ja die Trennung der verschiedenen Wirs bemerkt.

Hartwig Albiro: Das hat schon noch eine Weile gereicht. Wir haben im November nach der Maueröffnung noch eine Kunstdemo gemacht. Da haben ich und andere Kunstschaffende gesprochen. Da waren auch Arbeiter dabei, wir hatten da schon noch 10.000, 15.000 Zuhörer. Aber dann trat wirklich ein, dass die Sucht nach der D-Mark eminent wurde. Wenn es eine Einheit bis dahin gegeben hatte – vielleicht war sie auch nur entstanden aus dem gemeinsamen »wir wollen es anders machen« –, ist sie, als es dann um die konkreten Ziele ging, relativ schnell auseinandergebrochen. Als ich noch am BE war, haben wir immer von der Weisheit des Volkes gesprochen. Davon habe ich mich damals schnell verabschiedet. Also, das ist schon eine Riesenenttäuschung, aber die Künstler oder die Schauspieler sind ja auch nicht das Volk. Wir sind ja auch nur ein Teil des Volkes. Insofern kann ich immer, wenn ich jetzt Wir gesagt habe, wohl vorwiegend für die Mehrheit der Schauspieler in der DDR sprechen und für eine ganze Reihe anderer Menschen. Aber es hat ganz viele Mitläufer gegeben und ganz schnell Überläufer und Trittbrettfahrer und Wendehälse und was es alles so gab. Die Enttäuschung ist schon riesig, ja. Wahrscheinlich muss die Kunst, oder es müssen bestimmte Geisteswissenschaftler oder Persönlichkeiten halt vorangehen und ihre Meinung durchzusetzen versuchen, in der Hoffnung, dass es auch die richtige ist. Ich glaube nicht an Mehrheiten, das habe ich ausgeträumt. Aber ich höre nicht auf zu hoffen, dass Personen andere Personen – und möglichst viele – beeinflussen können und das möglichst positiv.

Janine Ludwig: Jetzt wage ich noch den allerletzten großen Sprung in die Jetztzeit und stelle eine offene Frage an Sie alle, denn wir sind jetzt in einer politisch durchaus schwierigen Lage. Es scheint, dass das Land sehr gespalten ist. Es scheint, dass es große Teile der Bevölkerung gibt, die völlig anderer Meinung sind als die Regierung oder die politischen Entscheidungsträger. Und dann gibt es auch jetzt wieder eine Kunst, die eigentlich den Auftrag wahrnehmen will, wieder Öffentlichkeit herzustellen, politisch tätig zu sein in Dresden, in Chemnitz und anderswo, die wieder die Verantwortung spürt, öffentlich zu gestalten oder öffentlichen Diskurs und Dialog zu gestalten und anzuleiten oder mit zu begleiten.

Die Frage ist, ob das funktionieren kann, wenn wir gerade von der Enttäuschung über die Trennung der Kunst von den – »Massen« oder »Klassen« – beides schwierige Begriffe – reden: dass die Kunst sich also, wie das jetzt wieder sehr viel gefordert wird, wieder stärker politisch anbindet und engagiert. Ich frage mich, ob Sie beide, auf dem Felde der Kunst mit den Mitteln des Theaters, besserer Hoffnung sind, jetzt wieder politische Diskussion anzuleiten. Vielleicht können Sie auch aus der aktuellen Arbeit berichten, ob und wie es funktioniert. Und vielleicht kann man das auch ins Publikum fragen.

Carena Schlewitt: Ich würde gern noch was zu dem Wir sagen. Ich glaube, das Wir in der DDR war natürlich konstituiert durch die Situation der DDR, dadurch gab’s dieses Wir. Und ich glaube, dass es dieses Wir auch bei Müller gibt. Aber er hat die Achse in die Geschichte und in die Zukunft aufgemacht. Und in dem Moment, wo die DDR aufbricht oder wegbricht, ist natürlich dieses Wirerst mal weg. Es gab eben eine bestimmte gesellschaftliche Situation vor und nach dem Zusammenbruch der DDR. Und jeder Mensch hat individuell darauf reagiert.

Aber mir fällt auf, dass diese Frage nach diesem Wir heute wieder zurückkommt, insbesondere im Osten. Und die wichtige Frage ist, wer besetzt das Wir? Und noch eine Anmerkung zur »Wende«: Die Bürgerbewegung war wichtig, aber auch die Montagsdemos, der Protest vieler Menschen im Land, auch die Künstler mit ihren Stimmen, und es war wichtig, dass die Sowjets die Panzer nicht in Bewegung gesetzt haben.

Einwurf aus dem Publikum: Die Ungarn waren noch wichtig.

Carena Schlewitt: Ich finde eben diese einseitige Wendeerzählung schwierig, gerade jetzt im 30. Jahr des Mauerfalls. Die Geschichte wird immer aus einer Perspektive oder maximal zwei erzählt, und ich finde, man muss sich wirklich das komplexe Gebilde anschauen.

Zur Frage nach dem Wir heute: Ich glaube, dass es darum geht, Allianzen zu bilden auf unterschiedlichen Ebenen. Die Kunst kann vieles leisten, aber sie ist kein Reparaturkasten der Gesellschaft. Als Herr Albiro gerade von der Allianz zwischen Karl-Marx-Stadt und Dresden auf der Bühne gesprochen hat, musste ich an den heutigen Zusammenschluss WOD – Weltoffenes Dresden – denken. Das gibt es in Dresden seit 2015, hat sich gegründet, als auch Pegida entstanden ist und heute sind ca. 50 Institutionen aus Kultur, Bildung und Wissenschaft darin vereint. Wir versuchen gemeinsam, bestimmte gesellschaftliche Aktionen zu stemmen und zu zeigen, dass wir in der Kultur zusammenstehen. Die großen Institutionen sind genauso dabei wie kleine freie Träger. Dabei ist klar, dass es insbesondere in den großen Institutionen keine homogene Mitarbeiterschaft gibt. Es gibt auch Mitarbeiter, die beispielsweise die Erklärung der Vielen nicht unterschreiben wollen. Ich glaube, diese Frage nach den Wirs, den unterschiedlichen Wirs wird uns in der nächsten Zeit sehr beschäftigen.

Wolfram Ette: Teilweise, Frau Schlewitt, haben Sie jetzt meine Frage schon beantwortet. Es geht mir um die Rolle des Theaters, wobei ich zunächst denke, dass das Theater diese spezielle Rolle, die es in der DDR gespielt hat, jetzt nicht mehr einnehmen kann: durch die Pluralisierung der Medien; dadurch, dass diese besondere Dreieckssituation zwischen Bühne, Publikum und Staat weg ist, was einfach eine Spannungssituation gewesen ist, in der alle möglichen Dinge mit politischer Bedeutung aufgeladen gewesen sind, die in der Situation jetzt leichter verpuffen würden, ohne dass es jemand merkt. Deswegen erscheint mir tatsächlich auch so ein Verbund von vielen Institutionen, an dem bildende Künste und darstellende Künste und Literatur usw. beteiligt sind, besser, auch wenn es klar ist, dass das nicht zu dieser Kompaktheit, ja zu so einem wirkungsvollen Brennspiegel gesellschaftlicher Prozesse führen kann, wie es das Theater in der DDR, auch anders als das Theater der Bundesrepublik, für einige Zeit sein konnte.

Die andere Frage die ich habe, bezieht sich auch auf dieses Wir. Da hat sich sicher was verändert. Also wenn ich Sie richtig verstanden habe, geht es ja auch konkret darum, dass jetzt am Theater XY im technischen Personal AfD-Wähler dabei sind, oder Leute, die damit zumindest sympathisieren, dass also einfach dieser Riss, so wie er quer durch die Familien geht, er eben auch quer durch die Institutionen geht. Er geht durch die Sportvereine, durch die Schulen sowieso, durch die Lehrerkollegien. Und das heißt: Überall finden diese Aushandlungsprozesse statt, müssen ja auch stattfinden, es geht ja gar nicht anders. Und da ist für mich tatsächlich die Frage, ob und wie die Künste da mitmachen müssten. Es wäre doch wichtig, solche Streitereien, solche Aushandlungsprozesse, wo eben ein Wir überhaupt gar nicht erkennbar ist, oder alles irgendwie zersplittert und aufgespalten ist und sich Gräben und Feindseligkeiten überall aufgetan haben, auf diese Weise erst einmal herzustellen. Erstmal müssten diese Konflikte wirklich hochgezerrt werden und gezeigt werden. Das wäre für mich eine Frage, ob das vielleicht eine Möglichkeit wäre, wie sich Theater engagieren könnte.

Hartwig Albiro: Ich würde gerne noch was sagen zur Situation in Chemnitz. Nach dem Sommer 2018 wurde Einiges ja sehr geschickt benutzt von rechten Gruppierungen, um falsche Sachen zu verbreiten. Also: Ein Deutscher sei bei der Verteidigung einer deutschen Frau von Ausländern niedergestochen worden. Das hat schnell Menschengruppen mobilisiert. Die Behörden haben das unterschätzt und auch versagt. Und rechtes Gedankengut hat großen Raum gehabt. Etwa 8.000 rechte Demonstranten waren da und die Gegenseite war zögerlich in der Mobilisierung, hat aber dann mächtig zugelegt. Die Theater, die Städtischen Theater Chemnitz haben eine Woche nach diesen Ereignissen ein Open-Air-Konzert gemacht, vor 10.000 Zuschauern, Neunte Symphonie. Darin waren nicht nur die Musiker, die Philharmonie beteiligt, sondern auch Teile des Schauspielensembles, des Figurentheaters, des Balletts. Die gesamten Sparten haben sich eindeutig bekannt zu einem demokratischen Dialog, oder zumindest für ein Nichtzulassen dieser rechten Parolen. Und das wunderbare Zeichen der Solidarität der Theater untereinander war, dass die Theater der Bundesrepublik, nicht alle, aber ganz viele, Weimar, Hof, Nürnberg, Leipzig, Berlin, Chöre entsandt haben, oder Teile von Chören. Und der Chemnitzer Chor, der die Neunte singt mit etwa 100 Leuten, war noch mal verstärkt mit 100 zugereisten Theaterschaffenden, die auf diese Weise ihre Solidarität bekannt haben: ein ganz großes Zeichen, welches eben wenig durch die Medien gegangen ist. Das Schauspielensemble hat auf meine Initiative hin, und auf die von Franziska Huhn, die Tochter eines Schauspielers, mit dem ich Kontakt habe, eine Initiative gestartet. Da haben sich bei mir und Frau Huhn viele ehemalige Karl-Marx-Städter gemeldet: Corinna Harfouch, Schmaus, also die ganze Garde, die da alle mal waren, Krause, Schmidt-Schaller etc. Es ging darum: Wir wollen was tun. Dann haben wir die sogenannte »Gala der Ehemaligen« organisiert, d. h. die ehemaligen Karl-Marx-Städter Künstler kommen ins Schauspielhaus und geben Statements ab, ganz individuell und jeder wie er will, zur Lage. Wir haben das klugerweise nicht gleich sofort gemacht, sondern etwas später, als der erste Trubel vorbei war, also im Dezember. Ich habe selten so eine Einheit der Meinung gehabt auf der Bühne. Da waren es halt auch wieder nur 400, mehr gehen nicht rein in das Schauspiel. Aber der Zuspruch war ungeheuerlich.

Ähnlich war es vorher: Da kommen die Toten Hosen mit Campino, und Feine Sahne Fischfilet: 65.000 Menschen, davon 50.000 junge und 15.000 alte. Ich war bei den Alten – so: »Bravo, Opa, dass du auch dabei bist, ja!« –, und es war großartig, eine solche Freundlichkeit von den jungen Leuten zu erleben, also nichts mit Gewalt und so. Es wurde getanzt, es wurde geknutscht, bissel getrunken. Bierflaschen standen rum, nichts mit Splittern. Campino hat gesagt: »Nicht eine Scherbe darf fallen.« Ich habe aber selten so viel Kraft gekriegt, wie von diesen 50.000 jungen Leuten und 15.000 alten, darunter ganz viele Zugereiste. Da sind gewaltige Gruppierungen da, die sagen: »So wollen wir das nicht«, es gibt viel auszusetzen an unserer Demokratie, aber wir lassen sie uns nicht wegnehmen, nicht von rechten Gruppierungen. Und die Bereitschaft zum Dialog ist groß und die wird auch im Theater gemacht.

Es gibt im Schauspielhaus die »Denkfabrik«: Da wird diskutiert zur Lage. Also es gibt eine Menge Aktivitäten, die versuchen, die Lage – nicht zu beherrschen, aber sagen wir mal – zu formieren, oder damit umzugehen, dass man zumindest miteinander redet und dass nicht die Gewalt der Fäuste, sondern die Gewalt der Worte herrscht. Das würde ich mal so behaupten. Das ist auch meine Hoffnung, und da sind wir, da ist die Kulturszene verbunden mit anderen Gruppierungen. Ich kann jetzt nur für Chemnitz reden: Wir sind da schon ganz schön stark.

Janine Ludwig: Wenn ich da einhaken darf: Einheit der Meinung, das war genau das nicht, was Wolfram meinte. Es ging eher darum, den Konflikt auf die Bühne zu holen, oder? Also, »Ich glaube an Konflikt und sonst an nichts«, nicht Einigkeit zu zelebrieren, was natürlich ein tolles Zeichen ist, aber genau nicht die erreicht, um die es geht. Das war ja das Problem. Bitte melden Sie sich gerne, wenn sie auch was sagen wollen.

Carena Schlewitt: Im Wahlprogramm der AfD Dresden gibt es eine Seite zur Kultur in Dresden. Da steht sehr schön formuliert, dass sie für die Kultur sind, dass Dresden eine Kulturstadt ist, und dass sie Dresden hauptsächlich als Stadt der klassischen Kultur sehen. Deshalb unterstützen sie die Stadtbibliothek, den Kulturpalast, das Staatsschauspiel, das Theater Junge Generation. Dann schreiben sie, dass sie gegen politische Kunst sind, und wer Agitprop haben möchte, soll das doch bitte selber bezahlen. Und im Übrigen sind sie auch dafür, HELLERAU, das Europäische Zentrum der Künste in der jetzigen Form nicht weiter fortzuführen. Sie wollen es als Vermietungshaus nutzen, denn HELLERAU lohne sich in dieser Form nicht. Dann geht es um DDR-Kunst. Sie wollen ein Museum für die DDR-Kunst bauen. Also: Sie sind gegen politische Kunst, aber sie wollen ein Museum für die DDR-Kunst bauen. War die nun politisch oder unpolitisch? Die AfD hat nicht formuliert, dass sie HELLERAU schließen wollen bzw. anders nutzen wollen, weil es zu international ist, oder weil es die Freie Szene beherbergt, sondern sie argumentieren mit Wirtschaftlichkeit. Aber sie positionieren HELLERAU mitten in die Aussage zur politischen Kunst. Diese Methode kenne ich auch aus einigen osteuropäischen Ländern, wo ich Kollegen und Kolleginnen habe. Die Frage der Förderung ist natürlich heute ein Hebel, viel stärker als die Frage der Zensur.

Wir setzen in unserem Programm bestimmte Themen, die ja auch die AfD neu für sich entdeckt hat. Beispielsweise machen wir in diesem Herbst einen Schwerpunkt zu »89/19 – vorher/nachher«, in dem wir auch neue Produktionen von jungen Künstlern und Künstlerinnen zeigen, die sich aus heutiger Sicht mit der Umbruchsituation 1989 beschäftigen. Beispielsweise die Regisseurin Tanja Krone, die 1989 dreizehn Jahre alt war. Ausgangspunkt war für sie ein Satz, den sie 1989 oft gehört hat: »Jetzt kommt eine ganz andere Zeit, jetzt müsst ihr die Ellenbogen ausfahren.« Damit ist sie in ihre Heimatstadt gefahren und hat Interviews geführt mit ehemaligen Freunden, Mitschülern, Lehrern, mit ihrer Familie.

Im Januar machen wir ein Festival mit zeitgenössischen russischen Kunst- und Theaterpositionen. Wir haben früh angefangen, diese Themen künstlerisch zu setzen, gerade für Dresden und HELLERAU. Und wir sehen, dass die AfD anfängt, diese Themen gesellschaftlich, politisch für sich zu reklamieren.

Wir sind ein Haus für ein breites Publikum. Wir haben dieses Jahr das Tonlagenfestival gemacht, ein bekanntes, zeitgenössisches Musikfestival in Dresden, das alle zwei Jahre stattfindet. Am ersten Wochenende gab es Uraufführungen von Komponisten aus der DDR. Es waren ganz viele Menschen im Publikum, die offensichtlich lange nicht mehr in HELLERAU waren oder noch nie. Wir merken das immer, wenn nach den Toiletten gefragt wird. Wir hatten Thomas Rosenlöcher zu Gast im Gespräch, auch die Elblandphilharmonie mit einer Uraufführung von Wilfried Krätzschmar, ein Oboenkonzert mit dem legendären Oboisten Burkhard Glaetzner usw. Über das künstlerische Programm gab es Anschlüsse zu Ostbiografien, aber das ist nur ein Aspekt unter vielen. Uns geht es vor allem darum, einen Raum zu schaffen und Angebote zu machen.

Falk Strehlow: Also, ich wollte nur noch etwas ergänzen zu Heiner Müllers Lesart des Satzes: »Wir sind das Volk«. Er hat ja für diesen Anachronistischen Zug von Hanne Hiob drei Wagen gestaltet. Auf dem ersten Wagen – dem von der »Commerzbank« – stand: »Wir sind das Volk«, auf dem zweiten Wagen – der »Dresdner Bank«: »Wir sind ein Volk«, und auf dem dritten Wagen – auf dem der »Deutschen Bank« – stand: »Du sollst keine anderen Völker haben neben mir«. Ich glaube 1990 war das, als dieser Anachronistische Zug losfuhr. Und ich finde es interessant, dass wir jetzt darüber reden.

Einwurf aus dem Publikum: Ich fühle mich jetzt gar nicht so berufen dazu, aber ich habe heute schon einmal darauf hingewiesen, und ich möchte es jetzt hier wieder machen: die Neuausgabe von Adornos Aspekte des neuen Rechtsradikalismus. Er arbeitet heraus, dass die Konzentrationsprozesse, die beim Kapital stattfinden, nach wie vor Deklassierte schaffen, und dass ein Teil der jetzt oder künftig Deklassierten das sozusagen auch vorausahnen, dass sie dabei sind. Diese großen Aktionen, wo sich viele bekennen, dass sie diesen Rechtsradikalismus nicht wollen, ist aber meist bloß moralischer Appell, und von dem rät Adorno ganz eindeutig ab. Man kann ihnen nicht moralisch kommen. Ich finde es wichtig, dass Kunst auch Kunst bleibt, weil politische Kunst oft die Neigung hat, moralisch zu werden. Das nutzt gar keinem, aber ich finde wichtig, dass Kunst aktiv wird, und sie kann genau da aktiv werden, wo sie einfach Realität zeigt, oder wie Heiner Müller sagt, »um Wirklichkeit unmöglich zu machen.« Also, da etwas aufzuzeigen, ist wichtiger als moralische Appelle, die ich nicht ganz ablehnen will. Ich würde nicht sagen, dass man sich nicht auch bekennen soll. Es ist wichtig, aber es kann nicht dabei bleiben.

Carena Schlewitt: Ich denke, es kommt auf die Form und den Rahmen an. Diese Unteilbar-Demonstration, die jetzt in Dresden stattfand, war wichtig. Ich finde aber die Frage nach der Kunst sehr wichtig, auch wenn ich mit Kulturpolitikern rede. Es geht um die Kultur und die Kunst. Wir haben jetzt am Sonntag mit dem Tag des offenen Denkmals eröffnet. Und wir haben in diesem Jahr die berühmte Experimentalbühne von Adolphe Appia wieder aufgebaut, zusammen mit dem Alexander von Salzmann-Lichtraum, in dem ca. 6.000 Glühbirnen in langen Reihen hinter weißen Stoffbahnen angeschraubt werden, so dass ein geschlossener weißer Raum mit indirektem Licht entsteht. Am Tag des offenen Denkmals war alles frei zugänglich, unterschiedliche Performances, Vorträge und Ausstellungen usw. Es waren ganz viele Leute da, die sonst nicht ins Haus kommen. Diese zufälligen Denkmalstag-Besucher waren überrascht von der ungewöhnlichen Raumerfahrung und fanden es toll, dass es das in Dresden gibt. Sie haben gefragt, was vor 100 Jahren hier stattfand usw. Mir ist dann immer wichtig zu betonen, dass das nicht einfach als Kulturdenkmal entstanden ist, sondern dass das damals waghalsige Leute waren, die ein Risiko eingegangen sind, so etwas zu bauen und zu bespielen. Die sind auch pleitegegangen nach drei Jahren, weil die Stromrechnungen für diese Glühlampeninstallation zu hoch waren. Ich finde es wichtig, genau diesen Punkt zu betonen, dass Kunst sehr, sehr unterschiedlich sein kann. Und eine Partei wie die AfD geht ja davon aus, dass alle Kultur-Institutionen und alle Künstler das Gleiche machen. Das schwingt in ihrer Formulierung vom »linksversifften Kulturbetrieb« mit.

Janine Ludwig: Rechts sind sie nicht, die Künste, oder?

Einwurf aus dem Publikum: Gleich mal zum letzten Punkt. Politik oder Kultur oder Kunst, wie man es auch immer bezeichnen will: Manchmal hat man so den Eindruck, dass man sich subkutan belehrt fühlt. Wie Sie sagten, gierten die Leute nach 1989 nach der D-Mark. Wer da ’88, ’86 in Ungarn gelebt hat, der hat doch gemerkt, dass er mit der D-Mark weitergekommen ist, als mit der dämlichen DDR-Mark, wo man sich 14 Tage lang durchhungern musste, um sich hinterher vielleicht eine Jeans zu kaufen. Das den Leuten vorzuwerfen, wenn die Städte verrottet waren, wo im Grunde genommen nichts mehr wirklich funktionierte, ist nicht richtig. Es ist doch klar, dass der Normalbürger sich nach Normalität sehnt. Dass man das dann wieder lächerlich macht, ist ja dann auch wieder so eine kleine Arroganz, die da lautet: »Wir wissen, was gut ist.« Das ist auf der Beschreibungsebene erstmal rein festgestellt.

Carena Schlewitt: Aber wo habe ich das lächerlich gemacht?

Antwort: Nein, Sie nicht, ich meine allgemein, wenn man wieder über die Politik spricht, oder was damals hätte sein können. Sie haben ja auch zu Recht gesagt: In der Retrospektive gesehen, wollten wir eine verbesserte DDR. Ich wollte keine verbesserte DDR. Ich war froh, dass der Spuk vorbei war. Nachdem ich meine Stasiakte gelesen hatte, nachdem man Hohenschönhausen gesehen hat, da hatte man damit abgeschlossen, schlicht und einfach. Man hatte nicht den Traum. Auch das gehört sicherlich zur Pluriformität der Wahrnehmung der damaligen Zeit. Ein letzter Satz: Wenn man heute den Blätterwald durchguckt, 30 Jahre Mauerfall, da frage ich mich manchmal, haben wir, wie mein Lateinlehrer zu sagen pflegte, denselben Text? Es gibt, wie ein Jüdischer Witz sagt »vier Rabbis, acht Meinungen«. Das ist sicherlich normal. Aber dessen sollte man sich auch bewusst sein.

Wolfram Ette: Ich wollte versuchen, die Frage nach der Beziehung von Theater und Politik noch etwas konkreter zu machen. Ich fand in dem Zusammenhang die beiden Inszenierungen interessant, die Lösch in Dresden gemacht hat. Also einmal Graf Öderland und dann Das blaue Wunder. Ich fand, um es gleich vorweg zu nehmen, die erste Inszenierung großartig und Das blaue Wunder furchtbar. Und zwar hat das auch etwas mit dem, was Sie gerade gesagt haben, zu tun. Beim Blauen Wunder fühlte ich mich belehrt und außerdem ist da was passiert, was ich für total verkehrt und destruktiv halte, dass sich nämlich die Inszenierung im Großen und Ganzen über die AfD lustig gemacht hat. Und das halte ich wirklich für verheerend. Man unterschätzt sie dann auch. In Graf Öderland waren in das Dürrenmatt-Stück Chöre reininszeniert; und diese Chöre haben Pegida-Texte, die bei Facebook gepostet worden sind, vorgetragen. Ich kann mich sehr gut an den Anfang erinnern. Es ging damit los, was wir jetzt auch immer wieder auf den Wahlplakaten gesehen haben: »Wir haben 1989 Revolution gemacht, wir machen sie jetzt wieder!« Und das war ganz stark, gerade, weil es sich nicht moralisch darüber erhoben hat, sondern es zunächst nur einfach dargestellt hat. Da wurde ein Konflikt dargestellt, und es wurde eben dann im Zusammenhang mit diesem Stück, wo es ja auch um eine Revolution geht, die dann umkippt, und sich in etwas vollkommen Anderes, ja in eine Diktatur, verwandelt, sehr gut miteinander verbunden. Und das hat mir bei Das blaue Wunder gefehlt. Ich habe mich gefragt: Es ist derselbe Regisseur, das liegt eigentlich nur drei Jahre auseinander: Wie kann das sein, dass jemand, der eine so gute Sache gemacht hat, jetzt auf einmal mit der Moralkeule vor mir herumfuchtelt, so dass es mir wirklich peinlich ist. Ich hatte sozusagen wirklich Fremdscham, die ganzen zwei Stunden, die es gedauert hat. Und da frage ich mich: Kann dann nur der Regisseur was dazu? Oder liegt es auch an einem sich verändernden gesellschaftlichen Klima, das dann eben mehr so in Richtung Moral, Belehrung oder so etwas, wogegen Sie jetzt eben argumentiert haben, steuert? Was könnte man da als Theater tun?

Carena Schlewitt: Ich denke, der Ausgangspunkt in der Kunst kann nicht die Moral sein – das war auch in der DDR nicht der Fall. Aber natürlich ist Kunst immer Teil der Gesellschaft, sie steht nicht außerhalb der Gesellschaft. Wenn man mit Künstlern und mit Kunst arbeitet, ist der Ausgangspunkt ja erst mal die Kunst und in unserem Fall die Projekte, die entweder an uns herangetragen werden oder die wir sehen und die wir einladen oder koproduzieren; Themen, zu denen wir Festivals machen. Das ist eine ganze Bandbreite. Oft geht es gar nicht in erster Linie um ganz konkrete politische Themen. Es handelt sich um einen offenen Prozess, der aber sehr viel auslösen kann, was auch mit unserer Zeit zu tun hat. Wir vergeben ja keine Auftragswerke oder laden explizit Regisseure oder Gruppen ein. Die Projekte ergeben sich sehr dialogisch im Gespräch und in der Programmentwicklung. Das funktioniert in der Freien Szene anders als im Stadttheater.

Hartwig Albiro: Ich bin ja nun lange aus dem Amt, insofern kann ich nicht so ganz aktuell mithalten, aber ich würde schon mal gerne sagen, ein moralisierendes Theater ist nie unsere Absicht gewesen, und es ist auch falsch. Das meine ich nicht. Es gibt ja einen humanistischen Auftrag, eine Botschaft der Kunst; und es gibt für Theater einen wichtigen Satz, der heißt: »Auf der Bühne interessiert nicht der Kampf von Recht gegen Unrecht, sondern der Kampf Recht gegen Recht«; und da wird’s spannend und das ist eigentlich das, was ich verstehe unter Dialog. Und natürlich hätte ich eine bestimmte Position, aber nur so ist überhaupt Auseinandersetzung spannend, im Dialog mit den anderen, im Zuhören und im möglichen Widerlegen durch Worte. Moralisieren wäre nicht mein Ding. Kunst hat schon die Aufgabe, nicht zu moralisieren, sondern die Botschaft des Humanismus zu verkünden. Das wäre meine Entgegnung.

Und nochmal zur DDR, weil Sie das vorhin sagten. Ich kenne natürlich viele, die sagen: »Wir waren froh, dass wir sie los waren.« Ich würde nur sagen: Ich bin auch froh, dass es die DDR nicht mehr gibt, aber ich lasse sie mir nicht wegnehmen. Ich habe 40 Jahre gearbeitet da, und ich denke, ich bin einigermaßen aufrecht durchgekommen. Ich kann auch meine Stasiakte vorführen, und bei mir steht: »Albiro ist ein Feind, er muss eliminiert werden.« Die Dinger habe ich auch. Also ich stelle mich hier nicht als Opfer hin, ich war auch privilegiert in der DDR, aber ich war mit dem System durchaus nicht einverstanden. Da kann ich eine Menge Zeugen bringen.

Es ist ein kleiner Witz: Ich habe zwei maßgebliche Orden. Der eine ist der Kunstpreis der DDR und der andere ist die Verdienstmedaille des Landes Sachsen, das ist der höchste Sachsenorden. Und dann war ich eingeladen zum Tag der Einheit in Frankfurt vor fünf Jahren. Ziemlich hoch angebunden, Merkel, Gauck usw. und ich habe die beiden Orden angelegt, weil Orden und Ehrenzeichen anzulegen waren. Da hatte ich den Kunstpreis der DDR und die Verdienstmedaille Sachsen. Ein paar haben gefragt: »Ja, was ist denn das da?« – »Das ist ein Orden der DDR und ein Orden der Bundesrepublik. Wir feiern den Tag der Einheit und ich trage beide.« Da haben viele gesagt: »Prima, das machst du richtig.« Also das sind meine Lebenserfahrungen und ich kenne viele, viele gute Leute, die die Leistungen der DDR-Menschen richtig einschätzen. Und dazu gehört die Distanz von vielen Dingen, aber es gibt auch ein Leben, das man da gelebt hat. Das ist so.

Marianne Streisand: Was irgendwie fehlt – ich meine jetzt nicht in unserer Diskussion jetzt hier, sondern generell –, ist eine wirkliche Aufarbeitung dessen, was nach der Wende passiert ist. Also im Zusammenhang mit der AfD etc. Es gibt viele Punkte, da gibt es jetzt Diskussionen, die mir Hoffnung machen. Ich will bloß ein Beispiel mal kurz sagen. Ich war vor ein paar Wochen in den baltischen Ländern. Da gibt es zum Beispiel Anteilsscheine, die die Bevölkerung bekommen hat für das, was da Volkseigentum hieß. Davon konnten die sich Wohneigentum kaufen. So ist jetzt in diesen Ländern, zumindest in Litauen und Estland, der größte Teil der Wohnungsverhältnisse Eigentum. In Russland muss es so ähnlich gelaufen sein, das weiß ich jetzt nicht. Das ist irgendwie in der DDR völlig vergessen worden. Auch gab es nach der Wende diese Diskussion – Jürgen Fuchs hat darüber geredet –, dass die Arbeiter in den Volkseigenen Betrieben auch Anteilsscheine bekommen. Das waren Volkseigene Betriebe, wir haben die alle durch unsere Steuern mitbezahlt. Solche Prozesse, also wenn wir über Heiner Müller reden, müssen wir auch über Ökonomie reden, müssen, für meine Begriffe, aufgearbeitet werden. Oder … ich höre jetzt auf! Also jedenfalls war das für mich irgendwie ein Bedürfnis, das nochmal zu sagen.

Janine Ludwig: Das ist ein super Vorschlag, der natürlich ein ganz fundamentales Problem anreißt. Nämlich die Eigentumsfrage. Und die steht ja am Anfang von allem, wie wir spätestens seit Rousseau wissen. Sie haben jetzt die Verantwortung und die schwere Last, das Schlusswort zu sprechen. Sie machen das schon ganz hervorragend. Ich mache mir keine Sorgen.

Einwurf aus dem Publikum: Das würde ich sehr unterstützen, was Sie gesagt haben. Mein Lehrer war Wolfgang Ullmann, und er hat am Anfang, bevor die Treuhand überhaupt existierte, diese Idee so einer Volksaktie mit irgendwelchen Schweizer Nationalökonomen entwickelt, damit jeder einen Anteil an dem geschätzten Volksvermögen hat. Das wurde mal auf 300 Milliarden DM geschätzt, und die Treuhand hat dann mit 250 Milliarden Minus abgeschlossen. Also irgendetwas ist da schiefgelaufen. Ich wollte nicht die Schlussbemerkung machen, aber eine Sache sagen, weil da jetzt so viele Statements waren, die sich so kritisch gegenüber der Moral geäußert haben. Ich halte das so ein bisschen, nun schon seit längerem, für eine Zeitgeisterei. Ich finde, es gibt eigentlich ein Zuwenig an Moral und nicht ein Zuviel. Es gibt eine böse Moral und eine gehässige und eine arrogante, alles gut. Aber eigentlich fehlt uns Moral an vielen Stellen. Also denken Sie an den kategorischen Imperativ von Kant. Der verweist auf Ihr Verhalten gegenüber einem anderen Ort der Gesellschaft. »Handle stets so, dass die Maxime deines Handelns als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kann.« Das ist ein hochmoralischer Impuls. Und wenn Sie sagen: »Interessiert mich nicht, was Kant sagt, bei mir ist das ganz anders«: Ich habe eher das Gefühl, dass wir in der Gesellschaft eben ein Zuwenig an Anstand haben. Es gibt Dinge, die macht man nicht, und das muss man wissen. Man beschimpft keine Juden. Man macht keine Ausländer an und irgendwelche anderen Schwächeren. Das ist eigentlich ein Gefühl, eine Haltung für Anstand, die stark mit moralischen Fragen – die man bedenken muss und reflektieren und die man auch erleben muss – zusammenhängt. Deswegen bin ich immer etwas vorsichtig. Ich kenne die Schwächen des Moralisierens, aber bin etwas vorsichtig, wenn ich höre, dass wir die Moral entsorgen wollen. Das kann sehr unangenehm werden.

Carena Schlewitt: Nein, wir haben nicht gesagt, dass wir die Moral entsorgen wollen. Aber es ist nicht die Hauptaufgabe der Kunst, moralisch zu sein. Kunst kann auch ganz unmoralisch daherkommen und Moral auslösen.

1 Wahrscheinlich Claus, Roland: Held oder kollektives Subjekt. Die Problematik der DDR-Literatur, Diss. (masch.) Universität Göttingen, 1978.

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