Infame Erzähler, unmögliche Stimmen
Erschienen in: Recherchen 119: Infame Perspektiven – Grenzen und Möglichkeiten von Performativität und Imagination (04/2015)
1. Suspekte Erzähler.
Was kann die Literaturwissenschaft zu einem Gespräch über gefährliche Perspektivübernahmen beitragen, an dem unter anderem auch Polizisten, Gerichtsgutachter und Juristen beteiligt sind? Weniger ihr Material, also Geschichten, denn Geschichten erzählen – das können auch die Ermittler, die Anwälte, die Richter und die Gutachter; und sie tun es, wie man seit Langem weiß, gelegentlich mit großem Raffinement. Nein, wenn die Literaturwissenschaft zu einem solchen Gespräch überhaupt etwas beizusteuern hat, dann kann es nur ihr Wissen über diskursive Formen sein – über bestimmte Formen des Darstellens, ohne die etwa ein Begriff wie „Täterperspektive“ gar nicht denkbar wäre. Deshalb handelt dieser Beitrag auch nicht von einem bestimmten Fall, einer bestimmten „infamen Perspektive“, sondern von der strukturellen Infamie eines bestimmten Typus von Perspektive.
Dieses Interesse an Darstellungsformen hat auch damit zu tun, dass die inhaltliche „Skandalkompetenz“ der Literatur in den letzten hundert Jahren zunehmend von anderen Medien in den Schatten gestellt worden ist. „Das Infame“, so einer der Teilnehmer des Symposions, „hat die Bücher verlassen“, um sich anderswo einzunisten – zum Beispiel im Internet. Auch wenn man dies angesichts der ungebrochenen Beliebtheit literarischer Skandale bezweifeln darf, so ist doch unverkennbar, dass Literaturskandale in aller Regel nicht nur von Inhalten ausgelöst werden....