Magazin
Noch ist Frühling!
Mariette Navarro: Wir Wellen. Matthes & Seitz, Berlin 2014, 72 S., 10 EUR.
von Kerstin Car
Erschienen in: Theater der Zeit: Für eine kurze, lange Minute – Die Schauspielerin Valery Tscheplanowa (05/2014)
2010 ging in die Geschichte ein als das Jahr, in dem der Arabische Frühling erste Knospen trug, in dem in der arabischen Welt ein Hoffnungsschimmer entfacht wurde, der sich wie ein Strohfeuer ausbreitete. Und es war das Jahr, in dem die 1980 in Lyon geborene Dramatikerin Mariette Navarro dank eines Aufenthaltsstipendiums in Algerien lebte und dort die Verzweiflung, das Feuer und die Umbruchsstimmung dieses aufkeimenden Frühlings miterlebte und niederschrieb.
Herausgekommen ist „Wir Wellen“, ein lyrischer Theatertext, dem man sich nicht nur in Anbetracht der geografischen Umstände, unter denen er geschrieben wurde, und des Zeitgeistes, den er eingefangen hat, kaum entziehen kann, sondern auch, weil er das Gefühl einer brennenden und sich verzehrenden Generation einfängt.
Navarros Sprachstil, der sich zwischen Manifest und innerem Monolog bewegt, entfaltet im Verlauf eine fast transzendierende Wirkung und enthüllt auf sonderbar luftige und leichte Weise die unsagbar tiefe und schwere Gedankenwelt eines Wir-Kollektivs. Ein Wir, das zwischen Verbitterung und Euphorie, zwischen Verzweiflung und Hoffnung, zwischen selbstauferlegtem Stillschweigen und unterdrücktem Schmerzensschrei pendelt und selbst vor dem eigenen Leben nicht haltmacht, um aus seiner kleinen Welle des Widerstands eine Flut werden zu lassen. Es sind nicht die konkreten politischen Hintergründe, die Navarro ins Zentrum stellt, sondern der innere...