Vorwort
von Katharina M. Schröck, Silvia Stolz und Wolfgang Schneider
Erschienen in: Recherchen 146: Theater in der Provinz – Künstlerische Vielfalt und kulturelle Teilhabe als Programm (05/2019)
Deutschlands Theaterlandschaft ist weltweit einmalig. Sie ist vielfältig und heterogen: Sie ist über drei Jahrhunderte historisch gewachsen – und Reformen sind deshalb längst überfällig. Ausgangspunkt aller Überlegungen für kulturpolitische Perspektiven der Darstellenden Künste sollte künstlerische Vielfalt und kulturelle Teilhabe sein. Künstlerische Vielfalt ist Völkerrecht, vereinbart von Bund und Ländern über eine Forderung der UNESCO-Konvention zum Schutz und zur Förderung von Diversität kultureller Ausdrucksformen. Kulturelle Teilhabe ist Menschenrecht und die Prämisse der Allgemeinen Erklärung der Vereinten Nationen. Theater in der Provinz ist, das behaupten wir, zudem ein Auftrag der Kulturpolitik. Theater muss für alle da sein! Wo auch immer Menschen leben, haben sie das Recht auf Zugang. Das ist die Basis von Demokratie.
Die Theaterlandschaft, das sind die Stadt- und Staatstheater, die Landesbühnen, die freien Theater, die Amateur- und Tourneetheater. Sie sind die fünf Finger einer Hand, die zusammengehören; die Gastspielhäuser, die Veranstalter*innen und die Theatergemeinden sind die Handinnenfläche, welche die Basis bilden für die Distribution von Theater in der Provinz.
Aber: „Gesellschaftliche Diskussionen werden von urbanen Zentren dominiert. Doch mit einem defizitären Blick auf ländliche Regionen zu schauen, kann nicht funktionieren.“ Anna Eitzeroth bringt es auf dem Podium unserer Tagung in Memmingen, „Theater in der Provinz“, auf den Punkt. Der Titel ist Programm, wird aber unterschiedlich interpretiert: Unterstreicht er nicht gerade die Kluft zwischen Metropole und Land, zwischen urbanem, pulsierendem Zentrum und der öden, weiten Fläche?
Die Begrifflichkeit polarisiert im Vergleich etwa zu „Theater im ländlichen Raum“. Dabei ist Provinz erst einmal völlig wertneutral und könnte auch positiv konnotiert sein. Aber die Auseinandersetzung um die Provinz zeigt, worum es auch zu gehen hat: um eine Standortbestimmung. Genauer: um eine Positionierung der Akteur*innen, welche die Darstellenden Künste in allen Regionen dieses Landes produzieren, anbieten, veranstalten, vermitteln und nicht zuletzt rezipieren. Theater nicht nur für die, nicht lediglich mit der, sondern in der Provinz, also auch aus ihr heraus, mit ihr verwoben? Diese Überlegung soll den Blick weiten, weg von der Betrachtung der Kulturszenen im urbanen Raum, hin zu einer Beobachtung und Reflexion der Strukturen im ländlichen Raum. Eingeladen haben wir die Verbände, die Theater der Provinz möglich machen: den Deutschen Bühnenverein, die Interessengemeinschaft der Städte mit Theatergastspielen, den Bund der Theatergemeinden, den Bundesverband Freie Darstellende Künste und den Bund Deutscher Amateurtheater. All diese unterschiedlichen Stimmen der Theaterlandschaft haben etwas zu sagen und sollen zu Wort kommen, um zusammen zu denken, was zusammengehört, um zu dokumentieren, was ist, und zu debattieren, was sein sollte.
Auch wenn von einer Landschaft die Rede ist, der die Idee eines Netzwerks immanent ist, wird schnell deutlich: Die einzelnen Theaterschaffenden scheinen einander nicht immer so zu kennen und sich auch nicht so wohl gesonnen zu sein, wie man vielleicht vermuten könnte. Wir setzen auf die Gemeinsamkeiten, denn beim Kampf um Zuwendungen und Legitimation werden schnell Gräben geschaufelt und die Differenzen gepflegt. Bisherige Diskurse um Tendenzen in den Darstellenden Künsten, über Strukturfragen und -veränderungen konzentrieren sich meist auf die Städte, insbesondere auf die dort vorherrschenden Erscheinungsformen von Theater: Stadt- und Staatstheater und zunehmend die freie Szene stehen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit von Öffentlichkeit und Forschung.
Anstoß für die Tagung in Memmingen, diese Veröffentlichung und die Beschäftigung mit dem Theater in der Provinz sind aktuelle Forschungsansätze am Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim: eine Betrachtung der Theaterlandschaft in Hinblick auf Landesbühnen und Gastspielhäuser, kulturpolitische Fragestellungen in Bezug auf die Beauftragung, Eigenheiten und Strukturen eben dieser Theaterinstitutionen, die sonst kaum wahrgenommen werden.
Aus diesen Analysen ergaben sich Hypothesen und Überlegungen, die nicht nur einzelne Akteur*innen betreffen, sondern sich klar auf die Landschaft der Darstellenden Künste beziehen und verdeutlichen, dass gerade in der Provinz tatsächlich künstlerische Vielfalt gelebt werden kann. Ausgehend von einem kulturpolitischen Leitbild der flächendeckenden Versorgung mit kulturellen Angeboten und einer Ermöglichung kultureller Teilhabe, ist jedoch auch ein kritischer Blick geboten: Wer erreicht tatsächlich wen mit welchen Programmen? Wer bleibt außen vor? Welche Rolle spielen Kulturvermittlung, kreative Komplizenschaften und faire Kooperationen? Gibt es nur ein Nebeneinanderher oder doch einen Moment des Community-Building am theatralen Lagerfeuer? Blenden die kulturellen Leuchttürme die Umgebung, die kleinen, vielleicht bescheideneren Formen der Darstellenden Künste aus? Wie kann die gegenseitige Wahrnehmung gestärkt, wo gemeinsam Zukunftspläne geschmiedet werden? Vielleicht ist ein Zusammenwirken aber auch gar nicht nötig, wenig hilfreich und kontraproduktiv für die eigene kreative Arbeit?
Gerade das Theater in der Provinz scheint auch durch seine Vielfältigkeit geeignet zu sein, Baustellen aufzuzeigen, welche die gesamte Landschaft der Darstellenden Künste betreffen. Es kann aktuelle Herausforderungen beschreiben und mögliche Zukunftsszenarien aufzeigen. Denn hier treffen alle und alles aufeinander: professionelle Theater und Breitenkultur, Tourneetheater auf Durchreise, freie Theater, die sich im Dorf „einnisten“, Theaterproduktionen, die sich künstlerisch selbst beauftragt haben, und partizipative Ansätze, welche die Aktivitäten der Menschen vor Ort zu Tage fördern und einbinden wollen.
Zugleich sind all diese Formate und Handschriften noch mehr als in den urbanen Strukturen abhängig von Ressourcen: nicht nur von Geld, Räumen und Zeit, sondern in besonderem Maße von Vertrauen, Beziehungen, Konstellationen. Doch es geht nicht nur um Bedingungen und Personal. Schnell werden Überlegungen zu Finanzierungsmodellen zu grundlegenden Fragestellungen: Es gibt zwar eine Theaterförderung, aber wie versteht sich diese als Künstler*innenförderung, wo bleibt die Mobilitäts- oder gar die Publikumsförderung? Und wäre es nicht sinnvoll, neben der Angebots- auch die Teilhabeorientierung als förderungswürdig anzuerkennen? Was ist der Impuls für Kooperationen im ländlichen Raum? Steuert die Förderpolitik die inhaltliche Arbeit? Bestimmt der Auftrag der Kulturinstitutionen das Handeln oder können diese die Freiheiten einer öffentlichen Förderung ausnutzen, um auch im Wald und auf dem Deich experimentelle Formate in das Dorfleben zu implementieren? Doch was, wenn das Dorf gar nicht gewillt ist zu einer Zusammenarbeit? Schließlich hat längst nicht jeder Ort auf die städtischen Künstler gewartet? Und muss wirklich immer jeder partizipativ arbeiten oder darf Publikum auch einfach nur Publikum sein? All diese Fragen, Widersprüche und Potentiale bestimmen den Diskurs und sind auch in diesem Band versammelt.
Befragt werden nicht nur Anlässe und Begründungen von Kooperationen oder Projektarbeit, sondern genauso werden die Künste kritisch betrachtet: Theater für ein junges Publikum und zeitgenössischer Tanz scheinen immer noch und überall eine Sonderstellung einzunehmen – zu Recht oder lästiges Vorurteil? Welches Theater für welche Menschen, scheint immer noch die grundlegende Frage zu sein. Verbunden mit der grundsätzlichen Auffassung, dass Theater in der Provinz als ein Auftrag der Kulturpolitik zu werten ist. Mit einem kulturpolitischen Blick nähern sich die Autor*innen im ersten Teil der Thematik: „Impulse zur Kultur im ländlichen Raum“ geben Einblicke in aktuelle Forschungen und eröffnen die Diskussion um die Begrifflichkeiten. Beate Kegler und Thomas Renz werfen einen Blick auf den ländlichen Raum und das, was da Provinz heißt. Beate Kegler unter dem Blickwinkel der künstlerischen Vielfalt und Thomas Renz unter dem der kulturellen Teilhabe. Wo hört das Urbane auf und fängt das Rurale an? Welche Bedeutung hat die Zuschreibung von Bezeichnungen auf das Selbstverständnis und die Wahrnehmung? Während Katharina M. Schröck die Perspektive und Bedeutung der Landesbühnen befragt, fokussiert Silvia Stolz auf einen der Akteure des Theaters der Provinz und der Distribution: die Gastspielhäuser. Im zweiten Teil bilden Reflexionen zum Theater in der Provinz und zur Tagung in Memmingen den Weg in die Praxis. Wolfgang Schneider diskutiert den Anspruch der demokratischen Teilhabe und plädiert für ein Theater der Provinz, weil es so in den Darstellenden Künsten zu Grenzüberschreitungen kommen müsse. Strukturen von gestern gelte es zu reformieren, öffentliche Förderung dürfe dabei gerne auch auf konzeptionellen Überlegungen basieren, könne sich als Risikoprämie verstehen, um Standortsensibilitäten zu ermöglichen. Julius Heinicke nimmt eine Aufbruchstimmung in der Provinz wahr, deren Basis auch Kooperationen sind. Manfred Jahnke fragt nach der Zukunft des Theaters in der Provinz und Lena Düspohl, Thilo Grawe, Merle Mühlhausen und Antonia Rehfueß legen mit ihrem Glossar zum Theater in der Provinz einen terminologischen Grundstein für den Diskurs.
Im dritten Teil widmen sich Akteure des Theaters in der Provinz diskursiv der Thematik. Holger Bergmann wirft einen Blick auf das Phänomen Landschaftstheater und die Form des Jahrmarkttheaters. Henning Fülle spricht mit dem Intendanten der Uckermärkischen Bühnen Reinhard Simon und seinem Nachfolger André Nicke über die Anforderungen und die Veränderungen der Bühne in und um Schwedt. Wolfgang Schneider, Katharina M. Schröck und Silvia Stolz diskutieren mit Stefan Hallmayer und Simone Haug über die Anforderungen eines Regionaltheaters auf der Schwäbischen Alb. Sven Scherz-Schade nähert sich im Interview mit Christian Kreppel, Präsident der INTHEGA, und Werner Müller, dem Intendanten der Fürther Bühne, den Gastspieltheatern und Ilona Sauer spürt den theatralen Kollaborationen der Künstlergruppe LIGNA auf dem Land nach.
Die abschließenden Beiträge im vierten Teil geben Einblicke in die tatsächlich gelebte Theaterarbeit und zeigen unterschiedliche Positionen und die Vielfalt in der Provinz. Naemi Zoe Keuler weiß die Potentiale von Amateurtheatern zu pointieren, während Friederike Lüdde über das Theater Rudolstadt im Geflecht der Thüringer Bühnen schreibt. Micha Kranixfeld äußert sich zu Erfahrungen des Syndikats Gefährliche Liebschaften in ländlichen Gebieten. Michael Grill bringt die Position und die Herausforderungen der Theatergemeinden näher, Sabine Reich berichtet über das Projekt Tanzland der Bundeskulturstiftung. Anna Scherer schreibt von den Besonderheiten des Lebens und Spielens an der Burghofbühne Dinslaken, insbesondere an den Gastspielorten. Und Dirk Schröter berichtet über seine Erfahrungen mit dem Tourneetheater.
Mögen die Diskurse zum Theater in der Provinz zur Reform der Theaterlandschaft beitragen und ein Umdenken sowie einen Umbau in der Kulturpolitik initiieren. Die Darstellenden Künste entwickeln sich im Prozess gesellschaftlicher Transformationen, die Praxis braucht aber perspektivisch auch strukturelle Veränderungen – mit dem Ziel: mehr Theater für mehr Menschen!
März 2019
In dieser Publikation wurde die jeweilige Autorschaft bei den einzelnen Texten dahingehend berücksichtigt, dass bei jedem Artikel der jeweils gewählte Umgang mit den Geschlechterbezeichnungen nicht durch die Herausgeber angepasst wurde; lediglich die Darstellung wurde durch die Verwendung des Gendersternchens vereinheitlicht. Bei manchen Beiträgen wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit auf eine geschlechterspezifische Differenzierung verzichtet und das generische Maskulinum verwendet. Weibliche und anderweitige Geschlechteridentitäten werden dabei ausdrücklich mitgemeint, soweit es für die Aussage erforderlich ist.