Theater der Zeit

Vorwort

von Devid Striesow

Erschienen in: Mit den Ohren sehen – Die Methode des gestischen Sprechens an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Berlin (04/2019)

Anzeige

Es war der letzte Unterrichtstag im ersten Jahr an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch. Wir waren voller neuer Eindrücke, tief verunsichert, und die anfängliche Euphorie war gänzlich verschwunden. Jedenfalls bei mir. Ich wusste nicht mehr, was das ist – spielen! Dabei schien es doch so einfach zu sein, am Anfang. Ich dachte, dass ich es kann. Es sollte während des Studiums nur noch perfektioniert werden, und dann war’s das.

Und nun war das erste Jahr rum. Ich hatte zweimal die Woche das Fach Sprecherziehung bei einer gewissen Frau Doktor Schmidt und das Gefühl, dass ich nie wirklich wissen werde, was dieses verdammte GESTISCHE SPRECHEN überhaupt ist! Ich stand da, vor ihr, sie sah mich an, lehnte sich zurück und fragte mich in ihrer direkten Art: „Na ja, möchten Sie denn, dass wir im nächsten Jahr wieder zusammenarbeiten? Sie können mir ganz direkt sagen, wenn Sie den Sprecherzieher wechseln wollen, das ist wirklich kein Problem. Denken Sie doch kurz mal darüber nach!“

Mir lief es eiskalt über den Rücken, und einzelne Szenen aus den Unterrichtsstunden zogen wie ein Schnellzug vor meinem inneren Auge vorüber: Zum Beispiel dieser bescheuerte Text „Mann im Fahrstuhl“, den ich probiert und probiert, aber nie hinbekommen hatte. Dieses Gefühl – froh zu sein, wenn der Unterricht vorbei ist, aber trotzdem immer unzufrieden zu sein mit sich selbst. Und jetzt sollte ich wechseln dürfen – sollen – wollen? Aufgeben? Niemals!

Das zweite Jahr hat mir Mut gemacht, dass ich’s doch irgendwann kapiere. Ich konnte mich öffnen, die Verspannungen im Kopf lösten sich, und du, liebe Vio, hast das honoriert. Denn du hast alles ganz genau beobachtet. Immer. Und gnadenlos ausgewertet. Und so konnte ich lernen und weiterkommen.

Als ich fünfzehn Jahre nach dem Abschluss an der HfS auf der Bühne stand und eine bestimmte Stelle, einen tiefen, langen Schrei, nicht hinbekam, habe ich dich angerufen, und wir haben uns getroffen und zwei lange Stunden miteinander verbracht, die mir wahnsinnig Spaß gemacht und geholfen haben. Und zum Abschied sagtest du: „Wenn was ist, melde dich einfach wieder – jederzeit!“ Und das werde ich.

Jetzt hast du deine Methode aufgeschrieben.

Liebe Vio, ich bin dir unendlich dankbar.

 

Devid Striesow

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Die „bunte Esse“, ein Wahrzeichen von Chemnitz
Alex Tatarsky in „The Future Is For/ Boating“ von Pat Oleszkos, kuratiert von ACOMPI für die Galerie David Peter Francis, Juni 2024, vor dem Lady Liberty Deli im St. George Terminal, Staten Island, New York