LebensSzene: Goethe mit Freud
von Sophie Witt
Erschienen in: Recherchen 109: Reenacting History: Theater & Geschichte (02/2014)
I.
Wenn Biographie sich mit der Frage der Schreib- und Erzählbarkeit des Lebens beschäftigt, ist das Beispiel des dem 18. Jahrhundert entstammenden Bildungsromans nicht in der Entgegensetzung zu aktuelleren Tendenzen des Biographischen interessant, sondern als Kristallisierung einer Problemlage, der sich die Lebens-Schreibung gegenüber sieht.1 Der Bildungsroman erzählt nicht einfach von kohärentem Leben, sondern er erzählt Leben kohärent: er passt ‚Leben‘ in eine Plot-Struktur ein.2 Seit Aristoteles’ Entgegensetzung von Tragödie und Epos ist es die Struktur des Dramas, die als Ökonomie der Zeit und des Raumes „in die verwirrende Chaotik und Fülle des Seins eine logische (nämlich dramatische) ordnung hineinträgt“3:
For it is the plot that allows the divergent elements of a fragmentary individual existence to be ordered in a manner that suggests totality, wholeness and thus, meaningfulness – under the condition that it be available to a single, uninterrupted perception. It is this that constitutes the specific virtue and value of tragedy for Aristotle, as opposed to epic, which is more extended, spread out, and therefore less intrinsically meaningful.4
Dem Bildungsroman – das lässt sich beispielhaft an Johann Wolfgang von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/1796) zeigen – geht das Phantasma voraus, ‚Leben‘ existiere als abgeschlossener...