Theater der Zeit

Auftritt

Berlin: Alle gegen alle

Maxim Gorki Theater: „Dickicht“ nach Bertolt Brecht. Regie Sebastian Baumgarten, Bühne Robert Lippok, Kostüme Jana Findeklee und Joki Tewes

von Gunnar Decker

Erschienen in: Theater der Zeit: Playtime! – Der Theatermacher Herbert Fritsch (05/2017)

Assoziationen: Maxim Gorki Theater

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Das Dickicht unserer Medienwelt besteht aus Bildern und Tönen. Wie sich hier einen Weg bahnen? Zuerst, indem Sebastian Baumgarten in seiner Inszenierung am Maxim Gorki Theater Berlin die Bilder von den Tönen trennt. Im Hintergrund läuft die Inszenierung als Film, den er in einer ersten Probenphase drei Wochen lang produzierte, hinzu kommt die Live-Synchronisation. Ist das zu wenig für die Bühne?

Sebastian Baumgartens „Dickicht“ dampft Brechts „Dickicht der Städte“ schlaglichtartig ein. Es beginnt mit jener obskuren Szene, da George Garga in der Bibliothek, in der er arbeitet, vom Holzhändler Shlink (auf niedrige Weise heroisch: Thomas Wodianka) erpresst wird: Dieser will ihm seine Meinung über ein Buch, das Garga gefällt, abkaufen. Er weiß, man kann jeden manipulieren, und Identitäten sind austauschbar. Was Shlink war, wird Garga – und umgekehrt. Der große Krieg aller gegen alle hat ein erstes Opfer: Shlink – weitere folgen.

Frage niemals jemanden nach seinen Motivationen! Etwas geschieht, weil es geschieht – und wenn auch niemand weiß, warum jemand so handelt, wie er handelt, vollzieht sich das Geschehen doch mit besonders schicksalsschwerer Wucht. Das Theater schreit bei Brechts „Dickicht“ geradezu nach dem Film! Die Handlung hat tatsächlich etwas von der Frühzeit dieses Genres, als man noch meinte: Hauptsache, es kommt Bewegung in die Bilder, egal wie! Und nun legt Sebastian Baumgarten diesen Nerv wieder frei. Letztlich hat jedes Bild im urbanen Menschenkessel von heute einen finalen Zweck: Man will etwas damit verkaufen. Ist also der Großstadtdruckkessel bloß die Fassade, hinter der es ganz und gar ausrechenbar kaufmännisch zugeht?

Der Frontverlauf, wie ihn der junge Brecht sieht: Chaos gegen Ordnung! Er feiert die Energie jener Kämpfer, die gar nicht wissen, wofür sie eigentlich kämpfen. Hauptsache, dieser Kampf wird bedingungslos geführt und alle schnöden Kalküle spielen keine Rolle im selbstgeschaffenen Bestiarium. Das klingt nach Rimbauds Hitzetraum von Afrika oder auch nach Jack Londons „Ruhm des Kämpfers“. Worum es dabei im Einzelnen geht, scheint egal, wer gewinnt, ist auch nebensächlich: Hauptsache, die Betriebstemperatur der beiden aufeinanderprallenden Kämpfer steigert sich in nie da gewesener Weise!

Es sind fiebrige Versuche, hinter den ordnungspolitischen Zuordnungen etwas vom gärenden Urschleim inmitten jener „Modernen Zeiten“ zu zeigen, die Chaplin wenig später als Räderwerk einer großen menschenverschlingenden Maschine auffasst. Der einzige Hoffnungsschimmer darin: der Einzelne als Staubkorn, das zum Störfall führt. Als Alfred Kerr das Stück 1924 im Deutschen Theater Berlin sah, wand er sich vor Widerwillen. Er sah „ältestes Klischee“ (das des „gelben Chinesen“), Kolportage und Epigonentum, ergo: „Völlig wertlosen Kram.“ Daraus spricht eine Erwartungshaltung ans Theater, die Brecht hier gerade zertrümmert.

Bei diesem phänomenologischen Bilderbogen setzt Baumgarten an. Er schafft Übergangsfelder des Unberechenbaren. Acht Schauspieler sitzen auf einer Bank im Halbdunkel der Bühne vor der Leinwand, die zum Ort des vorgeblichen Geschehens wird: auch dies als farbige Schattenwelt nicht mehr als Behauptung. Ab und zu stehen sie auf, steigen auf Podeste und sprechen direkt ins Publikum, das wirkt dann ein wenig so wie in Woody Allens „Purple Rose of Cairo“, wo der Filmheld von der Leinwand steigt und ins wirkliche Leben geht. Und siehe, dieses wirkt dann in seinen falschen Romantizismen wie eine Kopie der Filmvorlage.

Die Rollen sind im Programmheft nicht einzeln ausgewiesen, ein Fingerzeig auf das fragile Konstrukt dieser Inszenierung, aber gewiss auch eine Kränkung der Schauspielerseele. Dabei nutzen sie auf furiose Weise den minimalen Spielraum, der sich ihnen bietet, von Lea Draeger, Mateja Meded, Taner Sahintürk, Norbert Stöß bis Till Wonka. Wo ist oben und unten, was hat einen Wert, was ist bloßer Müll?

Wie schlägt man aus diesem medialen Knoten dramatische Funken? Die Filmeinspielung des – vor über einem Vierteljahrhundert – brennenden Wohnheims in Rostock-Lichtenhagen als Beleg für einen allgegenwärtigen Rassismus zu nehmen, scheint der einzige recht platt wirkende Kurzschluss in einem ansonsten virtuosen Bild-Text-Fluss, der die von Brecht postulierte Wertfreiheit des Kampfes aller gegen alle zum Schluss unnötig moralisiert. //

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