Avantgardistische Reformen: Hildesheimer Thesen und der Paradigmenwechsel
von Julius Heinicke
Erschienen in: Recherchen 148: Sorge um das Offene – Verhandlungen von Vielfalt im und mit Theater (05/2019)
Ungefähr zur Zeit des Erscheinens vom Kulturinfarkt veranstaltete das Hildesheimer Institut für Kulturpolitik eine Ringvorlesung zum „Reformbedarf auf der Baustelle Theater“ in Deutschland. Die hier präsentierten Hildesheimer Thesen formulieren aus unterschiedlichen Blickwinkeln Kritik an der gegenwärtigen Kultur- und Theaterlandschaft und äußern Vorschläge. Schneider, der die Auftaktvorlesung hielt, fordert ein grundsätzliches Umdenken, das jedoch weniger die Zerschlagung der Institutionen impliziert:
Das Prinzip dabei muss sein, kulturelle Vielfalt zu gewährleisten, nämlich verschiedene Formen und auch verschiedene Strukturen von Theater. Ein kulturpolitisches Kriterium einer solchen Theaterentwicklungsplanung wäre Interdisziplinarität. Das jetzige System ist diesbezüglich völlig überholt. Wo gibt es das noch, dass wir vom Sprechtheater reden, dass das Musiktheater ein eigener hermetischer Komplex ist genauso wie das Ballett, das Tanztheater und irgendwo auch das Kinder- und Jugendtheater sowie das Figurentheater. Gerade die Avantgarde arbeitet von jeher interdisziplinär und selbstverständlich auch am Stadt- und Staatstheater. Mehr davon!291
Das künstlerische Prinzip der Avantgarde erscheint dieser Argumentation folgend ebenso wünschenswert für die Organisation und Struktur der Theaterlandschaft. Flexibilität, um Interdisziplinarität zwischen den Genres zu leben, kann das Motto eines zeitgemäßen Theaters sein. Dem wirtschaftlichen Mehrwert im neoliberalen Sinn erteilt Schneider ebenso eine Absage:
Theaterförderung ist auch Risikoprämie. Wer öffentliche Mittel erhält, erhält auch die Lizenz zum...