Der Lifestyle-Blick der Medusa: Künstlerische Leitung The Agency (Magdalena Emmerig, Rahel Spöhrer, Belle Santos, Yana Thönnes). Medusa Bionic Rise
Uraufführung 31. August 2017. Eine Produktion von The Agency mit den Treibstoff Theatertagen Basel 2017. Bühne Belle Santos, Kostüme Magdalena Emmerig, Dramaturgie Rahel Spöhrer, Regie Yana Thönnes
von Christian Rakow
Erschienen in: Radikal jung 2019 – Das Festival für junge Regie (04/2019)
Assoziationen: Regie The Agency Treibstoff Theatertage Basel

Wie in guten Clubs muss man auch hier ein wenig warten, ehe sich die Pforten öffnen. Hinter der Absperrung erblickt man bereits Athleten beim Work-out. Beats wummern. „One, two, three“, pushen sich die Trainierenden. Und steppen! Und hoch die Knie! Und Muskeln spannen! Eine superschlanke Frau nähert sich unserer kleinen Zuschauergruppe, checkt jeden Wartenden mit relaxtem Blick. „Nice package!“, sagt sie freundlich bestimmt. In dieser Fitnesswelt spricht man bevorzugt Englisch. Die Geste ist einladend, niemand wird vor den Kopf gestoßen. Vielmehr impfen sie einen von der ersten Minute an mit Optimismus und „You can do it“-Spirit. Nur ob das eigene „package“ wirklich so gut ist, darf man später noch überprüfen. In einem Separee, wo Rahel Spöhrer im Look einer Tomb-Rider-Amazone zu Kniebeugen bittet, bis der Schweiß rinnt und man jedes einzelne Körpergramm hassen lernt.
„Medusa Bionic Rise“ heißt dieses begehbare Studio, welches das Performancekollektiv The Agency 2017 beim Treibstofffestival Basel herausbrachte und seither an verschiedenen Orten (u. a. beim Donaufestival im österreichischen Krems) aufbaute. In der Fiktion stößt man auf eine Untergrundbewegung, die sich durch radikale Selbstoptimierung gängigen gesellschaftlichen Ansprüchen wie „Natürlichkeit“ oder auch Individualität entziehen will. Eine Selbstoptimierung, die austestet, wo der Körper mit der Technik zu verschmelzen beginnt, wo das humane Selbst aufhört und die Cyborg-Existenz beginnt. Dabei ist immer auch mitgedacht, dass das Unterwandern von technologischen Standards nur um den Preis ihrer Aneignung zu haben ist. Wer Tools, die Konzerne im Highend-Kapitalismus bereitstellen, für sich modifizieren will, der muss sie zuallererst gebrauchen lernen. Das gibt dem Auftritt eine schillernd affirmative Note.
„Selbstoptimierung“ klingt als Wort fast ein wenig zu altertümlich. Wer mit den Macherinnen von The Agency redet, der findet sich schnell in einer Wolke aus anglophiler technizistischer Sprache wieder. „Radical enhancement“ heißt es dann und nicht: „extreme Leistungssteigerung“. Oder auch: Wie queer kann es werden?, nicht: Wie subversiv ist es, wie unterwandert es bestehende Normen? Die Gruppe würde auch nicht von „Stil“ oder „Machart“ sprechen, sondern von „Branding“ und „Corporate Identity“. Ganz offensiv werden die Rhetoriken und Strategien der avancierten Konsumindustrie für die eigenen Zwecke adaptiert.
Schon der Name der Gruppe – The Agency – entspringt einem solchen Aneignungsverfahren. Gegründet hat sich das vierköpfige Frauenkollektiv 2015 mit einer Arbeit fürs Berliner Freie-Szene-Newcomerfestival 100 Grad. Yana Thönnes und Rahel Spöhrer haben sich im Studiengang Philosophie und Kulturreflexion an der Universität Witten-Herdecke kennengelernt, Belle Santos und Magdalena Emmerig stießen aus der bildenden Kunst von der Berliner Kunsthochschule Weißensee dazu. Gemeinsam realisierten sie für 100 Grad einen interaktiven Abend über das YouTube-Phänomen ASMR, also Filme, in denen der Zuschauer von zumeist weiblichen YouTuberinnen mit Wohlfühlgeräuschen und Flüstern sinnlich stimuliert bzw. – wieder so ein Anglizismus – „getriggert“ werden. „ASMR Yourself“, wie der Abend am HAU in Berlin hieß, entwarf eine Lifestyle-Agentur, die für Zuschauer in One-on-One-Sessions persönliche Präferenzen scannte und dann entsprechende „Live-ASMR-Treatments“ anbot. Die Arbeit gewann einen der Preise des Festivals.
Mit der Idee der Agentur hatte die Gruppe ihr Format – oder sollte man sagen: ihren Markenkern, ihren „unique selling point“ – gefunden und nannte sich fortan The Agency. Wobei das englische „Agency“ schön doppeldeutig ist. Denn es meint nicht nur die Agentur als Dienstleistungsanbieter, sondern auch das, was der Zuschauer in dieser Form von Theater erleben kann: „agency“, also Handlungsfreiheit, Einflussnahme auf das Geschehen eines Abends. Wer in eine Lifestyle-Welt wie „Medusa Bionic Rise“ eintritt, der wird einbezogen, der kann sich seine Blickwinkel frei wählen, führt Gespräche, lässt sich an der Bar einen Fitnessdrink mixen oder schlendert in separierte Bereiche wie den Konferenzraum, in dem Video-Tutorials zum Beispiel darüber informieren, wie man mit geschickter Kosmetik Technologien zur Gesichtserkennung austricksen kann. Schminktipps für die Hightech-Guerilla.
Nicht jeden dieser Räume lernt man in den rund eineinhalb Stunden der Performance notwendig kennen. In einen der reizvollsten und geheimnisvollsten Bereiche gelangt man nur per Einladung durch eine der Performerinnen: Dort künden zwei Spielerinnen von der Figur des Basilisken, eines Mischwesens aus Vogel und Schlange, dessen Atem giftig ist und dessen Blick versteinert. Ähnlich dem Blick der für die Produktion titelgebenden Medusa. In verschlungene Erzählungen wird das Fabelwesen und seine Erscheinung in Basel mit neueren Gedankenexperimenten um die Allmacht der künstlichen Intelligenz verknüpft, die, sobald sie an die Macht gelangt, einen jeden tötet, der sich ihrer Entwicklung entgegenstellt. An diesem Ort verdichtet sich die Mythologie von „Medusa Bionic Rise“, spiegelt sich der körperkultische Abend im Blick auf uneindeutige Identitätsformen (Mischwesen) und entgrenzende Technologie (künstliche Intelligenz).
Das interaktive Theater, das den Zuschauer aus dem Theatersaal herauslöst und ihn in begehbare Welten schickt, hat in den letzten Jahren einen starken Aufschwung genommen, ausgelöst vom Siegeszug des dänisch-österreichischen Installationstheaterkollektivs Signa, das mit der 2008 zum Berliner Theatertreffen eingeladenen mystischen Dorfwelterzählung „Die Erscheinungen der Martha Rubin“ seinen Durchbruch feierte. Gruppen wie Prinzip Gonzo oder machina eX mit tendenziell spielerischen, an Computer-Games orientierten Abenden, Thomas Bo Nilsson mit seinen düsteren Halbweltfantasien oder eben The Agency mit ihren Lifestyle-Erlebnisräumen arbeiten dieses Feld in je eigener Weise aus. Interaktives Theater muss dabei einen schwierigen Spagat zwischen Handlungsfreiheit für den Zuschauer und erzählerischer Kohärenz leisten. Gesucht ist die ideale Mitte, der „sweet spot“, wie es der Game-Theoretiker Michael Mateas nennt, der goldene Schnittpunkt zwischen freier Wirkungsmacht des aktivierten Besuchers (agency) und übergreifender Sinnstruktur bzw. Geschichte des Abends (narrative).
In Arbeiten von Signa fühlt man sich am stärksten aktiviert, erlebt man die maximale „agency“. Jedes Hinzutreten, jedes Mitmachen des Besuchers verschiebt hier die Gestalt der Aufführung (was nicht heißt, dass es nicht übergreifende Abläufe und dramaturgische Bögen in ihren Abenden gäbe). Der Zuschauer wird im eigentlichen Sinne des Wortes zum Mitspieler, der durch sein Zutun die Ereignisse fundamental beeinflusst. Demgegenüber bauen die vom Adventure-Gaming inspirierten Arbeiten von machina eX auf fixe Skripte und Sinnstrukturen. Die Besucher sind hier vor allem als Knobler und Tüftler mit klar definierten Rätseln konfrontiert. Wenn sie diese gelöst haben, wird die Geschichte weitergespielt, in mitunter mehreren möglichen Handlungsverläufen und mit alternativen Enden, aber im Kern doch klar geskriptet. Diese Form des Interaktionstheaters maximiert also das „narrative“.
„Medusa Bionic Rise“ von The Agency wiederum rückt dem Zuschauer nicht mit linearem Handlungsaufbau auf den Pelz. Man stromert hierhin und dorthin, nimmt eine kurze Identitätserzählung auf, folgt anderswo einem Tutorial. Und baut sich die Fragmente unter allem gebotenen Vorbehalt zu einem eigenen Sinnmosaik zusammen. Tatsächlich ist der Grad an echter „Agency“ im Sinne der Einflussnahme auf den Ablauf in dieser Produktion vergleichsweise gering. Man kann dem Geschehen beiwohnen, vielleicht auch nur Rumlungern und sich von der suggestiven Atmosphäre einfangen lassen. Oder eben punktuell mitmachen, mittrainieren. Aber den Ablauf im Ganzen modifiziert man durch sein Tun nicht. Die Gesamtdramaturgie wird entlang geskripteter Sequenzen am ehesten vom elektrischen Sounddesign und den Spannungsbögen, die der Live-Musiker Nile Koetting einspeist, strukturiert.
Ganz ähnlich wie im Theaterabend, wird auch auf der das Bühnenereignis begleitenden Website www.medusabionicrise.net Partizipation eher fingiert als substanziell eingefordert. Wer auf den Button „Start the transformation“ klickt, stößt auf einen Mitgliedschaftsantrag, der sich als Fragebogen an das eigene Selbst entpuppt. „I am ready to question the nature of my body’s reality“, gelobt man da und verpflichtet sich: „Herewith I declare to overcome my body’s default and to fully recognize the merge of body and technology.“ Der Idee nach tritt man mit dem Ausfüllen des Bogens in die Bewegung „Medusa Bionic Rise“ ein, aber tatsächlich findet sich nirgendwo der „Send“-Button. Auf echte Mitgliedschaft ist das Theaterprojekt nicht angelegt. In dieser Hinsicht denkt es das Publikum doch eher traditionell als Rezipienten, nicht als Prosumenten, der das Ereignis mitgestalten könnte. Videos und alle weiteren Fundstücke auf der Seite sind offizielle, von den Künstlerinnen erstellte Materialien der Produktion.
Das Eigenwillige von The Agency steckt denn auch nicht so sehr in der interaktiven Methode, sondern im raffinierten Design, im offensiven Flirt mit den Zeichensprachen des neoliberalen Konsumismus. Die Gruppe selbst bezeichnet ihre Projekte nicht als „interaktiv“ oder „partizipativ“, sondern als „immersiv“. Der Terminus „partizipativ“ wurde lange Zeit für die demokratische Öffnung des Theaters verwandt, für die Durchbrechung der „vierten Wand“, für die künstlerische Einbeziehung des Zuschauers, in dezidiert politischen Projekten vom Experimentaltheater eines Richard Schechner bis zur Teilhabekunst einer Gruppe wie She She Pop. Das Schlagwort „immersiv“, das aktuell einen der großen Theatertrends bezeichnet (und unter dem Dach der Berliner Festspiele bereits einen theatralen Festivalschwerpunkt erhalten hat), hebt stärker auf die Erfahrungsqualität der Teilhabe ab. Es geht um die Erfahrung künstlicher Welten und ihrer eigentümlichen Regeln. Immersiv ist ein Projekt, in das man „eintauchen“ kann, in dem man gleichsam umfangen ist von einer künstlerisch generierten Realität, die man aktiv und eben nicht nur betrachtend durchlebt.
Immersiv sind natürlich viele Produktpräsentationen im Spätkapitalismus, angefangen beim IKEA-Einkaufshaus mit seinen Wohnwelt-Entwürfen bis hin zu Theme Parks à la Disneyland. Im Fahrwasser von Horkheimer/Adorno und ihrer Kulturindustriekritik hatte sich die Kunst lange Zeit als das radikale Gegenteil dieser Welten definiert, als Unterbrechung der soften Schönheit der Markenarrangements. Mit The Agency oder auch mit der Theatersprache einer Susanne Kennedy lässt sich eine offensive Hinwendung zu solchen Arrangements beobachten.
Welten, wie The Agency sie in „Medusa Bionic Rise“ oder in der Nachfolgearbeit „Perfect Romance“ (an den Münchner Kammerspielen 2018 herausgebracht) bauen, zeigen sich als radikale Verdichtung und Überzeichnung von marktförmigen Produktkonzepten und Dienstleistungen. Damit wandelt sich auch die Rolle der Kritik in diesen Arbeiten: Während viele Kunstwerke immer noch ihre eigene kritische Haltung in der Repräsentation selbst ausagieren bzw. sie geradezu direkt herausschreien, zielen die künstlichen Welten von The Agency auf maximale Geschlossenheit und Selbstverständlichkeit. Wenn es hier eine kritische Dimension gibt, dann zeigt sie sich nicht in einer Unterbrechung oder internen Selbstreflexion. Sie liegt außerhalb des Kunstwerks. Sie ist dem Rezipienten in seiner Auseinandersetzung mit der totalen, ja totalitären Ganzheit des Arrangements aufgegeben.
Es nimmt nicht Wunder, dass The Agency in „Perfect Romance“ mit dem Post-Popliteraten Leif Randt („Schimmernder Dunst über Coby County“, „Planet Magnon“) zusammenarbeiteten, dessen „postpragmatische“ Literatur in ähnlicher Weise wie versiegelt wirkt. Diese Kunst hat die Brechung und Ironie der 1990er und 2000er Jahre hinter sich gelassen und entwickelt alle Kraft aus ihren kühl designten, rhetorisch und visuell durchgestylten hyperkapitalistischen Settings heraus. Die Website von The Agency heißt sinnfälligerweise www.postpragmaticsolutions.com.
The Agency experimentiert mit „Erscheinungsformen des Neoliberalismus“, übersteigert sie, bürstet sie gegen den Strich. Es sind künstlerische Experimente aus „queer-feministischer Perspektive“, wie es in der Selbstbeschreibung der Gruppe heißt. „Medusa Bionic Rise“ ist ein Paradeabend für dieses Unternehmen. Fitness, Tracking der eigenen Leistungen, Schönheitschirurgie, Body Building und künstliche Intelligenz bzw. – in der Terminologie des Werkes – „mind-hacking“: Das sind die Darstellungsfelder, die der Abend aufmacht. Überall im Raum begegnen uns Figuren, die diese Felder in unterschiedlicher Weise besetzen: der Muskelprotz, die aufgepumpte Diva, die Athletinnen, die Prothesenträger. Es sind „queere“ Figuren, die ihr Gender schillern lassen. An ihnen manifestieren sich die Identitätsfragen dieses Abends, die aus feministischen Körper- und Cyborg-Philosophie entwickelt sind. Welche Normalität erwarten wir von Körper- und Selbstbildern? Wann ist der Eingriff in den Körper eine Selbstermächtigung? Wann empfinden wir ihn als fremdbestimmt? Wann gilt eine Programmierung überhaupt als künstlich und als „Eingriff“? Wieso akzeptieren wir etwa Kontaktlinsen, aber sperren uns gegen einen Chip unter der Haut?
Man sagt ja neuerdings gern, das Theater müsse mehr wie Netflix werden, also mehr in die digitale Moderne senden, mit komplexen, theoretisch informierten Fiktionen. So wie Cyber-Serien à la „Westworld“ oder KI-Fantasien wie „Person of Interest“. Die Bühnen sollten an den großen Themen unserer Zeit miterzählen, Geschichten vom Glanz und Elend der Technologie, sollten den Zauber der Unterhaltungsformate versprühen, uns auf die Transformation unserer Lebenswelten und unseres Selbstverständnisses stoßen. The Agency zeigen, in welche Richtung dieser Weg der Erneuerung des Theaters verlaufen könnte.