Theater der Zeit

Auftritt

Berlin: Im Zeichen des Minotaurus

Berliner Ensemble: „Die Griechen (Demos)“ (UA) von Volker Braun. Regie Manfred Karge, Ausstattung Beatrix von Pilgrim

von Gunnar Decker

Erschienen in: Theater der Zeit: Wie es euch gefällt – Christian Friedel vertont Shakespeare (12/2016)

Assoziationen: Berliner Ensemble

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Was Griechenland ist, wissen wir nicht, immer nur, was es nicht ist. Am häufigsten scheint dabei die Bestimmung: „Italien ist nicht Griechenland“. Den Satz sagten 2011 sowohl der FDP-Fraktionschef Rainer Brüderle als auch der italienische Premier Silvio Berlusconi. Man könnte die Reihe der Negativbestimmungen schier unendlich fortsetzen. Von Polen bis Portugal will niemand eines sein: Griechenland! Warum eigentlich nicht? Weil das Land, das die Demokratie erfand, inzwischen bei Politikern namens Papandreou oder Varoufakis anlangte, die „Troika“ zu einem dubios-neuen Wortsinn fand und Krise etwas zu sein scheint, mit dem das Finanzkapital nach Belieben Politik jenseits der Politik betreibt?

Volker Braun schlägt in „Die Griechen“ einen weiten Bogen: vom Mythos des Minotaurus bis zu Wolfgang Schäuble, von der antiken Tragödie bis zu den Athener Putzfrauen von heute, die den Aufstand gegen das Weg-Gespart-Werden wagen. Brauns Stück ist, was seine Texte seit dem „Hinze-Kunze-Roman“ und der „Übergangsgesellschaft“ immer waren: tradierte Genres aufbrechende Wort-Katarakte. Das abgründige Traktat ist spielbar! Jedenfalls dann, wenn man unter Spiel einen Anwendungsfall jener Reflexion versteht, die die dumpfe Praxis ins Licht rückt. Die Bühne nimmt Regisseur Manfred Karge als Steigerungsmöglichkeit ins Minimalistische. Eine Stuhlreihe muss als Ausstattung (Bühne und Kostüme: Beatrix von Pilgrim) genügen für diesen Transitraum der hellenischen Geschichte, in der sich die moderne Tragödie in all ihrer Banalität nicht findet, sondern immer mehr verloren geht: „Europa gefriert das Blut / Das Bier in den Adern. Die Märkte, heißt’s, sind in Panik. Die Aktien stürzen ein. Man spricht von Erpressung. Im Minutentakt drohen die Ratinggiganten. Der Euro verliert seinen matten Glanz. Wie morsche Säulen wankt die Ordnung, das Gott- / Das Geldvertrauen.“

Und wer ist hier Minotaurus, jener Zwitter aus Mensch und Stier, mythisches Ungeheuer, im Labyrinth gefangen, dem man nicht gern begegnet? Braun gab vor über einem halben Jahrhundert dem erhofften Aufbruch aus der SED-Diktatur in einen demokratischen Sozialismus mit auf den Weg: „Kommt uns nicht mit Fertigem!“ und vermeinte, die Gedichte der Jungen seien fortan „Ventile im Rohrnetz der Sehnsüchte“. Nun jedoch gilt es, die Einziehung des offenen Horizonts zu konstatieren, die absolute Herrschaft des „Fertigen“ hinter einer neuen Art von unsichtbarer Mauer: „die finanzwelt das labyrinth, aus dem der kunde keinen ausweg findet“, schreibt Braun in seinen Notizen zum Stück. Im Zusammenprall der „gewalt der märkte“ auf der einen und der sich auf sich selbst besinnenden Macht der Straße auf der anderen Seite spiegelt sich für ihn die Krise der „postdemokratie“. Was in dieser Konstellation dennoch an Zukunft gezeugt wird, darum geht es in „Die Griechen“ als Denkstück – über die real existierende Hoffnungslosigkeit hinaus.

Karge inszeniert nicht, er lässt über Geld, Tragödie und über den triviale Schleifen laufenden Alltag sprechen. Die Handlung ist dabei die eines an ihr Ende gelangten Prinzips, sie erschöpft sich in Gesten dieser Erschöpfung, die sich wortreich maskiert – oder aber auf die Stuhl-Barrikaden geht wie die wehrhaften Putzfrauen um Swetlana Schönfeld. Dagegen verblassen die Agenten des Geldmarktes, die Winkelzüge mit Visionen verwechseln, einer nach dem anderen. Der Chor unternimmt, was ihm zu tun bleibt: Er warnt vor den unvermeidlichen Folgen des „Weiter so“. Vergeblich?

Der Abend lässt wenig Raum für Hoffnung. Aber wenig heißt nicht gänzlich ohne. Um ihre Spuren zu finden, muss man allerdings weit zurückgehen, bis zum antiken Geschichtsschreiber Thukydides, der im 5. Jahrhundert v. Chr. notierte: „Es bedarf des demokratischen Regiments, damit die Armen eine Zuflucht und die Reichen einen Zügel haben.“ Das klingt dann fast so wie jener Revolutionsführer, über den Braun sein Stück „Lenins Tod“ schrieb. Eine Zeit lang sah Lenin im Geiste eines Thukydides die Rolle der Gewerkschaften darin, die Arbeiter vor dem Staat und diesen wiederum vor den Arbeitern zu beschützen.

Seit über zweitausend Jahren geht es im Zeichen des Minotaurus um Macht und Mechanismen ihrer Zügelung, die Gesellschaft als Ort des Interessenausgleichs. Wann findet man auf unseren Bühnen dieses Thema denn noch verhandelt? Bei Braun wird die Geschichte sowohl in ihrer Unmittelbarkeit als auch in philosophischer Distanz zum Thema; er stellt den Fragezustand inmitten der Herrschaft der Aussagesätze wieder her und das in der unaufwendigen Regie von Manfred Karge auf poetisch überwältigende Weise. Die Geschichte der Griechen kulminiert für Braun im Zusammenfluss von Gestern und Heute: „Die Täuschung, in die wir vertäut sind / Unter der Billigflagge meines Gedichts / Eine Fracht von gelöschtem Licht.“ //

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