Theater der Zeit

Auftritt

Marburg: Im Griff der Schwarzen Johanna

Hessisches Landestheater Marburg: „Schluckspecht“ (UA) nach dem Roman von Peter Wawerzinek. Regie Simon Meienreis, Ausstattung Mirella Oestreicher

von Joachim F. Tornau

Erschienen in: Theater der Zeit: Schauspiel oder Performance? – Walter Hess und Matthias Lilienthal über die Debatte um die Münchner Kammerspiele (02/2017)

Assoziationen: Hessisches Landestheater Marburg

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Plötzlich, das Saallicht leuchtet noch, ist da dieses unscheinbare Männlein. Klein, das Haar schütter, der Körper unverkennbar vom Alkohol modelliert. „Das wär mein Platz gewesen“, sagt er und weist mitten hinein ins Publikum. „Jeder Mensch muss im Leben seinen Platz finden. Und das wär meiner gewesen.“ Doch der Mann kämpft nicht. Er lamentiert ein wenig, dann zieht er von dannen. Und gibt den Zuschauern beim Hinausgehen noch mit, was sie an diesem Abend lernen sollen: „Am Anfang ist der Säufer noch Mensch. Am Ende ist dieser Mensch nur noch Säufer.“

Der Mann ist Peter Wawerzinek, seine Botschaft entstammt seinem, zurückhaltend ausgedrückt, stark autobiografischem Roman „Schluckspecht“. Das Hessische Landestheater in Marburg hat das 2014 erschienene Werk des Ingeborg-Bachmann-Preisträgers jetzt auf die Bühne gebracht. Und den Autor in persona gleich mit. In dem fast 460 Seiten dicken Wälzer erzählt Wawerzinek – aus der DDR stammend, von seiner in den Westen getürmten Mutter alleingelassen, bei Adoptiveltern aufgewachsen und schon früh dem Alkohol verfallen – vom Suff. Von den Verführungen des Alkohols, den Segnungen auch, von Abstürzen, von Elend, von Entzug um Entzug um Entzug.

Der 62-Jährige hat den Notausgang irgendwann, als eigentlich niemand mehr daran glaubte, doch noch gefunden. Ein grünes Notausgangsschild hängt auch inmitten des Bühnenchaos, das Mirella Oestreicher für das kleine Haus des Marburger Theaters geschaffen hat. Ansonsten: ein Dschungel aus Zimmerpflanzen, ein Spielplatzgerüst mit Rutschbahn, ein Röhrenfernseher, ein Klavier. Und dazu ein fast durchgängiger, enervierender Klangteppich: Kneipengeräusche gehen über in Schulhofgeschrei in Vogelgezwitscher in Gitarrensounds.

Regisseur Simon Meienreis hat den Roman nicht eigentlich dramatisiert. Knappe achtzig Minuten lang tragen eine Schauspielerin und ein Schauspieler (Victoria Schmidt und Stefan Piskorz) Auszüge des Originaltexts vor, mal abwechselnd, mal gleichzeitig, mal durcheinander. Nicht chronologisch wird erzählt, sondern schlaglichtartig. Ein alkoholgetrübter Blick durch ein Kaleidoskop, das Tante Luci und ihren Eierlikör, Onkelonkel und seine Trinkersprüche, die innige erste Liebe zur selbstgebrannten „Schwarzen Johanna“ zeigt.

Gleichwohl herrscht Action, nicht zu knapp. Schmidt und Piskorz, aus unerfindlichen Gründen in Hühnerkostüme gesteckt (oder sollen es etwa die titelgebenden (Schluck-)Spechte sein?), treiben zunächst munter Schabernack. Sie rennen und toben, pusten Seifenblasen, basteln sich Gefieder aus Zeitungen. Er legt Eier und bewirft sie damit. Sie flirtet intensiv mit einer Topfpflanze. „Du darfst im Suff bis zu einem bestimmten Punkt zappeln und turnen und die Damen mit Albernheiten zum Kreischen bringen“, schreibt Wawerzinek. „Übertreibst du es, geben die Kumpels dem Wirt das Zeichen, sich deiner anzunehmen, den Rauswurf einzuleiten.“

Später kippt die heitere Enthemmtheit in Aggression, in Gewalt und schließlich in dumpfes Vegetieren. Doch gerade da, wo es drauf ankommt, schwächelt die Inszenierung. Sie ist stark, wenn sie die Hymne auf den Rausch, die Wawerzineks Buch eben auch ist, in Bilder übersetzt. Der Duft des Rumtopfs, der Zinnober des Weingenusses, der Rausch als „väterliche Hülle“, als Instrument, die Welt auf Abstand zu halten. Aber wenn es ans Eingemachte geht, wenn der Verlust der Kontrolle kein Spaß mehr ist, sondern eine Krankheit, wenn der Alkohol als Alkoholismus alles regiert, eben: wenn der Mensch, wie Peter Wawerzinek sagt, nur noch Säufer ist – da gehen Simon Meienreis die sonst fast übereifrig sprudelnden Regieeinfälle aus.

So vermag die Inszenierung nicht recht zu berühren, bleibt ein bizarres und mitunter sonderbares Spektakel. Blass und zugleich überdreht. Da hilft es auch nicht, dass Peter Wawerzinek am Ende selbst noch einmal auftreten und sich im Schlusswort traurig zum Selbstbetrug bekennen darf. „Du stirbst keinen alkoholbedingten Tod“, sagt er, „solange du Freund der Schwarzen Johanna bist.“ //

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