Magazin
kirschs kontexte
Keuner und Fatzer, Ideen und Gase. Nach Mü(h)lheim
von Sebastian Kirsch
Erschienen in: Theater der Zeit: This Girl: Die Schauspielerin Johanna Wokalek (09/2014)
Welche Kerbe hat die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts dem 21. Jahrhundert zugefügt? Es lag nahe, dass die Fatzer Tage des Mülheimer Ringlokschuppens, die sich seit einigen Jahren der Beschäftigung mit Brechts „Jahrhunderttext“ verschrieben haben, diesmal speziell nach der Bedeutung von 1914 – 1918 fragten. (Zum Glück erging sich die Veranstaltung nicht darin – wie es bei chronologischen Anlässen ja häufig der Fall ist –, den Zufall der späteren Geburt zu nutzen, um dem Vergangenen souverän seine Stelle zuzuweisen.)
Nun ist heute die Frage nach 1914 ja immer auch die nach 1989/90: Wo stehen wir eigentlich, wenn der Erfahrungsraum des „kurzen Jahrhunderts“ sich zunehmend verschließt? Gerade habe ich Jean-Luc Godards Fernsehfilm „Allemagne neu(f) zéro“ (wieder-)gesehen, der inmitten des Epochenbruchs von 1989/90 entstanden ist und dabei ist mir noch etwas eingefallen, das gut nach Mülheim gepasst hätte, sich aber auch hier sagen lässt.
Am Ende des Godard-Films gibt es ein ungeheuerliches dokumentarisches Bild: eine fensterlose Hauswand in Berlin 1990, die von einer gigantischen, knallbunten Werbung des Gasherstellers „AGA, Berliner Gase GmbH“ bedeckt ist. „Ideen & Gase“ steht in großen Lettern über einem Sortiment bunter Gasflaschen, der – übrigens noch immer gebräuchliche – Werbeslogan einer Firma, deren Name auch „AGA – AGFA –...