Theater der Zeit

Gleichberechtigt in die Folterkammer: [50/50] Old school animation. Regie Julia Mounsey, Peter Mills Weiss

P. M. Weiss, J. Mounsey, S. Weisskoff, M. F. Pasic. Bühne A. Mincic, Musik C. Masullo, P. M. Weiss, Video/Licht M. Romein, K. McGee, Dramaturgie S. Weisskoff

von Christian Fahrenbach

Erschienen in: Radikal jung 2019 – Das Festival für junge Regie (04/2019)

Assoziationen: Nordamerika Peter Mills Weiss Julia Mounsey

Foto: Bjorn Bolinder
Foto: Bjorn Bolinder

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Im Dokumentarfilm „The Act of Killing“ dauert es gerade einmal zehn Minuten, bis sie sich zeigt, die Gleichgültigkeit eines Massenmörders. Als Zuschauer haben wir bis dahin einen indonesischen Massenmörder und seinen Handlanger begleitet. Anwar Congo heißt dieser Warlord, der, vom Filmteam aufgefordert, seine Taten nachstellt. Ruhig steht er auf einer Dachterrasse, bittet einen weiteren Helfer, sich auf den Boden zu setzen, und erzählt dann präzise, wie schwierig es gewesen sei, auf diesem Dach Mitte der 1960er Jahre die vermeintlichen kommunistischen Verräter zu töten, die hinter einem gescheiterten Militärputsch steckten. Eine halbe Million Menschen starben bei diesem Massenmord – und Congo beschäftigt in seiner Erzählung, warum er zunächst so schlecht im Töten war.

Schließlich hält er im Erzählen inne und erklärt, dass ihm dann doch eine Idee gekommen sei. Er habe genug festen Draht besessen und da sei dieser Metallpfosten gewesen. Congo blickt in der Jetztzeit der Dokumentation seinen Helfer an, wickelt einen dicken Draht um den fußballtorhohen Pfosten, dann von dort um den Hals des Mannes. „Wir müssen das ja vernünftig nachstellen hier“, sagt Congo. Dann zwirbelt er das lose Ende des Drahts um ein lineallanges Stöckchen. Er zieht am Draht, als ob er seinen Helfer töten wolle. Beide lachen scheppernd. Dann blickt Congo in die Kamera. Mit Stolz. Und ohne, dass in seinem Gesicht etwas von den grausamen Morden zu sehen wäre.

Gut sechs Jahre nach dem Erscheinen der Dokumentation von 2012 beschreibt Autorin und Schauspielerin Julia Mounsey ihre Faszination für das Thema: Wie kann jemand so pragmatisch sein, wenn es um das Zufügen von Schmerz geht? Wie so kalt? Wie kann er es so verdammt alltäglich nachstellen? Mounsey hat eine Vermutung: „Ich glaube einfach nicht, dass irgendjemand von uns besonders weit weg von Grausamkeiten ist. Es ist eine Entscheidung. Und es sind die Umstände.“

Ihr fallen weitere Beispiele aus der jüngeren Popkultur ein: Die Serie „Girls“, die sich detailreich einigen Endzwanzigerinnen im New Yorker Hipster-Headquarter Brooklyn widmet. Auch diese Reihe – wenn auch fiktional – spiele immer wieder mit der Frage, wieso sich Menschen psychischen und physischen Schmerz bereiten. Noch so ein Beispiel sei „Funny Games“, sagt sie, der gleich zwei Mal vom Österreicher Michael Haneke verfilmte Thriller, in dem zwei junge Männer eine Familie in ihrem Wochenendhaus über Tage sadistisch quälen und brutal töten, nachdem sie genau das zu Beginn kühl ankündigen.

Mounseys Theaterarbeit streift ähnliche Fragen, doch nachzuerzählen, wovon „[50/50] old school animation“ konkret handelt, würde zu viel von der Wirkung der beiden Monologe preisgeben. Die „New York Times“ erläutert das Nötigste: „Ein Stück, das das Größtmögliche aus scheinbar wenig macht. Es dauert weniger als eine Stunde, hat eine minimalistische Bühne und besteht aus zwei Monologen.“ Nach der Aufführung beim Festival Under the Radar auf der hochangesehenen Off-Broadway-Bühne Joe’s Pub im vergangenen Winter traute sich selbst die renommierteste Tageszeitung der Welt kaum, mehr preiszugeben. Vielleicht noch so viel: Im Zentrum geht es um Gewalt – Gewalt durch Frauen, Gewalt gegen Frauen, banale Gewalt im Alltagsgewand und Gewalt, die entsteht, wenn sich Menschen schlicht nicht an zivilisatorische Grundregeln halten.

Fast drei schillernd-erdrückende Stunden dauert die Reflexion dieser Fragen im Director’s Cut von „The Act of Killing“. Auf je rund 110 Minuten kommen die beiden Filmvarianten von „Funny Games“. Julia Mounsey und ihr gleichberechtigter Co-Autor Peter Mills Weiss setzen in „[50/50] old school animation“ ihre Stiche deutlich knapper –, nicht ohne manche Kritiker in ähnlichem Maß zu verstören wie die Leinwandvorbilder. „Ein Zwei-Frauen-Stück über weiblichen Betrug, schnell wie eine Klapperschlange“, bilanziert „Time Out New York“. „Gib ihnen fünfzig Minuten und sie werden sich ein Jahr deines Lebens nehmen.“

Mounsey selbst ist die erste dieser zwei Protagonistinnen, wie sie selbst, Julia genannt. Sie bricht zu Beginn die Schauspielillusion, kommt auf die Bühne und fragt unschuldig: „Can everyone hear me OK?“ Schließlich: „Ich werde jetzt etwa zwanzig Minuten sprechen, dann gibt es eine Performance.“ Während ihres folgenden Monologs schaut sie ins ständig hell beleuchtete Publikum – und kaum spürbar an vielen von ihnen vorbei. „Mir gefällt das sehr. Auf diese Art ist das Publikum am aufnahmefähigsten“, erläutert Mounsey, die auch als Performancekünstlerin und Lyrikerin arbeitet.

Auch die zweite Frau auf der Bühne hat ihre Wurzeln außerhalb des Theaters: Mo Fry Pasic ist eigentlich Comedian. Auch ihre Figur ist nach ihr selbst benannt: Mo. Kommt uns ihre Figur durch diese fast fachfremde Besetzung näher? Oder ist sie gerade deshalb besonders unerträglich?

„Ich bin überhaupt nicht daran interessiert, einen fantastischen Körper meine Argumente vortragen zu sehen“, sagt Peter Mills Weiss. „Und die Gründe dafür, dass Mo unsympathisch ist, sind Gründe, die wir nur Frauen entgegenbringen“, glaubt er. „Sie trägt Kleidung, die nicht passt. Ihre Stimme geht am Ende des Satzes hoch. Sie redet viel. Diese Dinge triggern die Leute, weil wir alle auf diese Art frauenfeindlich sind, glaube ich. Wir schauen sie auf der Bühne an und denken uns: ‚Shut up!‘”

Klingt zeitgeistig und doch zögern beide Autoren, darauf angesprochen, ob ihre Ideen gerade besonders gut zur #MeToo-Debatte passen. „Unser Stück lässt einen zumindest darüber nachdenken, was man mit Schwäche verbindet“, sagt Weiss. „Meistens ist Schwäche mit Frauen verbunden – und das ist eine abgefuckte Erkenntnis. Das ist eine der universalen Ebenen, die unser Stück hinterfragt.“

Die Theatermacher liegen mit ihrem Authentizitätsspiel groß im Trend. Auf vielen Bühnen gelingt derzeit diese Doppelbödigkeit, immer häufiger vorgebracht von Leuten, die eben keine gelernten Theaterschauspieler sind. Das Folk-Musiker-Ehepaar The Bengsons hat in New York das hochgelobte „100 Days“ auf die Bühne gebracht. Ursprünglich Musikerin, dann Songwriterin, und für den Zuschauer erst in dritter Linie Schauspielerin, begrüßt Abigail Bengson zu Beginn das Publikum im Party-Plauderton und erzählt, wie sie ihren Mann kennengelernt und wenige Wochen später geheiratet hat. Die Abgründe, von denen sie später in alptraumhaften Sequenzen spricht, werden durch diese Vertrautheit umso eindrücklicher.

Auch Peter Mills Weiss spielt seit Jahren mit dieser Methode. „Ich habe viele Monologe gemacht, bei denen die Zuschauer nicht wussten, ob ich lüge oder nicht“, erzählt er. „In normalen Theaterstücken denke ich die meiste Zeit: ‚Ich kaufe es ihnen nicht ab.‘ Ich arbeite dann innerlich dauernd daran, diesen Unglauben abzubauen.“ In der eigenen Arbeit gehe es ihm darum, durch diesen Erzählkniff Alltag herzustellen.

Zurück geht „[50/50] old school animation“ auf eine Spokenword-Performance von Mounsey vor einigen Jahren, die Weiss gesehen hat. „Ein früher Entwurf war das, beinahe wie ein Gedicht“, sagt er heute. Neben eigenen Projekten begannen sie über Jahre die gemeinsame Arbeit an den beiden Monologen. Mo Fry Pasic kam an Bord, immer wieder wurden Teile weiterentwickelt, ein organischer Prozess, der über mehrere Aufführungen seit 2016 zur aktuellen Version führte.

Nötig waren dabei auch andere Schwerpunkte. „Die Leute haben Mo am Anfang geliebt“, erinnert er sich. „Aber ein Trauma macht dich nicht automatisch schön“, ergänzt Mounsey. „Jetzt ist sie eine nervige Person mit Schmerz, diese Dualität war irgendwann einfach da.“ Anders ihre Julia. „Sie ist als Frau aufgewachsen. Sie hat vielfach vermittelt bekommen, wie sie und wie ihr Körper zu sein haben“, sagt die Autoren-Schauspielerin. „Andere haben sich über ihren Körper unterhalten und das hat bei ihr zu dem Gefühl geführt, dass sie nicht das Sagen über ihren eigenen Körper hat, dass sie und ihr Körper getrennt voneinander sind.“

Bei der Entwicklung dieser Backstorys ist es mittlerweile auch zur Methode geworden, den Schauspielern viel Raum zu geben. „Wenn du wirklich willst, dass jemand etwas auf eine Art annimmt, die sich für den Zuschauer anfühlt, als ob diese Person es lebt – dann musst du ihr die Führung darüber anvertrauen, was passiert. Die Person muss sich selbst ins Stück schreiben“, sagt Weiss. „Als Schauspieler bin ich selbst so oft wie ein dummes Kleinkind behandelt worden, aber ich glaube, dieser Shit ist tot – oder zumindest würde ich ihn gerne sterben sehen.“

Es ist nicht das Einzige, was das Theatermacher-Duo beim Entwickeln ihrer Stoffe anders macht. „Dieser ‚Auteur‘-Mythos, das alleinige Genie, das hat ohnehin nie existiert“, glaubt Mounsey. „Es sind immer so wahnsinnig viele Menschen daran beteiligt, damit alles am Ende einen Sinn ergibt.“ Und was ist mit all den polternden Kulturhelden aus den Feuilletons? „Daran glaube ich nicht.“ Wie zum Beweis beenden beide im Gespräch abwechselnd solche Gedanken der anderen Person. Sie betonen, wie selten sie bisher so entspannte Kollaborationen geschaffen haben. Auch für Weiss entsteht die Kunst in der Zusammenarbeit statt im alles bestimmenden Individuum. „Diese Vorstellung basiert ja vor allem auf dem Denken in Superlativen, das letztlich vor allem viel mit Machtkampf zu tun hat. Meine besten Arbeiten sind definitiv dann entstanden, wenn ich mit anderen kollaboriert habe“, sagt Weiss.

„Theater insgesamt sollte sich in diese Richtung bewegen, weg von den Fake-Kollektiven der Vergangenheit, die in Wirklichkeit sehr hierarchisch und patriarchalisch waren. Wir sehen jetzt, dass sich Menschen in der Zusammenarbeit zunehmend als gleichberechtigt wahrnehmen. Ich bin auf jeden Fall mehr an dieser engen Zusammenarbeit als an einer behaupteten Zusammenarbeit interessiert. Das ist auch der Grund, aus dem wir uns als ‚Production Company‘ keinen Namen gegeben haben“, erklärt er. Bei ihrer aktuellen Arbeit hat dieser partizipative Geist dazu geführt, dass neben Mounsey, Weiss und Pasic noch Sophie Weisskoff als vierte Co-Autorin genannt wird. „Julia und ich, wir sind in diesem Fall beinahe so etwas wie Produzenten“, sagt er, „lediglich der Kern, aus dem das Projekt entstanden ist“, ergänzt Mounsey.

Nicht nur hinter den Kulissen, auch auf der Bühne sind beide nicht an Schock als Selbstzweck interessiert. „Wir suchen uns nicht irgendein sensibles Thema aus, nur um zu sagen: ‚Ha! Da haben wir dich!‘“, erklärt Weiss. „Das wäre viel zu sehr auch nur ein Machtspiel. Wir wollen einfach Erwartungen brechen“, sagt Mounsey, bevor ihr Partner es auf den Punkt bringt: „Schock ist nicht wichtig. Aber Überraschung ist wichtig. Überraschung ist wie ein Geschenk.“

Überraschung, die hier definitiv zur Verstörung wird. Eine Verstörung, die im Stück auch dann gilt, wenn es eigentlich für die Figuren keinen geläuterten Weg mehr zurück in die Gesellschaft gibt – genauso wenig wie für Warlord Anwar Congo oder die beiden halbstarken „Funny Games“-Mörder. Mounsey und Weiss sehen trotzdem einen Ausweg für all diese Figuren. „Zuhören“, sagt Weiss. „Wenn es bei dem Stück eine gute Sache gibt, dann die, dass Menschen wie die Bühnen-Julia nirgendwo sonst so präzise über sich sprechen. Wir müssen ihnen zuhören.“

„Und bei jemandem wie Mo gilt das Gleiche. Wir tun Menschen wie Mo schnell ab, weil sie viel Quatsch reden. Wir haben oft den Impuls, jemanden zu verletzen oder eine Person fertigzumachen – aber wir müssen uns selbst fragen, warum wir so empfinden und ob wir das nicht einfach in einem Gespräch lösen können. Einem Gespräch, in dem wir viel zuhören.“

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