10. Kapitel
Erschienen in: Die Rampe oder An der Lethe wachsen keine Bäume (06/2013)
In der Stunde nach Mitternacht sind die Geräusche verstummt. Die Vögel schweigen, nur die Nachtlaken rascheln leise. Kramer träumt. Er ist wieder allein und liegt auf dem Seegrund. Die Angst schnürt ihm die Kehle zu. Von weit her hört er einen Ton, der sich langsam durch das Wasser schwingt, sich in seinem Ohr verstärkt und im Kopf schrillt. Ein neuer Ton kommt dazu, schärfer als der vorige und schneidet mit zierlichen, goldenen Federmessern kleine Wunden in seinen Kopf.
Es ist wieder still. Dann schwillt der Ton an, als ob er Luft holt, um ihn erneut mit voller Wucht zu treffen. Er wacht auf und hört das Martinshorn. Durch das Fenster fällt fremdes Licht, das den Himmel färbt. Eine dunkle Wolke wölbt sich über den Dächern in den Nachthimmel. Es knackt und knistert; schwarze Zweige tanzen im Rauchschlot. Der Wind frischt auf, das Licht strahlt rot in den Nachthimmel. Wieder steigt eine rußschwarze Wolke auf. Kramer schmeckt Phenol auf seinen Lippen. Wie damals die Luft über der Elbe, denkt er, wenn das Flusswasser schäumte und die Luft im Dorf stank, obwohl die Schrift in großen Lettern versprach: »Chemie, das ist Kraft, Schönheit und Wohlstand.« Er hört Schreie, Rufe und das gleichmäßige,...