Magazin
kirschs kontexte: Kaffeehaus und Tragödie
Kurzer Versuch über eine Wiener Institution
von Sebastian Kirsch
Erschienen in: Theater der Zeit: Mirco Kreibich: Brüchiger Zeitspieler (06/2014)
Das Wiener Kaffeehaus ist, man weiß es seit Langem, keine Gaststätte, sondern eine Weltanschauung, an der offenbar selbst Touristenmassen und Starbucks-Ketten bisher nicht wirklich haben rütteln können. Doch um welche Art Weltanschauung handelt es sich genau? Die berüchtigte Wiener „Gemütlichkeit“ reicht jedenfalls kaum hin, um die Komplexität des Kaffeehauswesens zu erfassen. Vielmehr hat die Gemütlichkeit eine Rückseite, die man eigentlich nur als „tragisches Bewusstsein“ bezeichnen kann.
Vielleicht muss man wirklich Stadtneuling und Theatermensch zugleich sein, damit einem die Details dieser eigentümlichen Mischung auffallen. Zum Beispiel die Tatsache, dass in den Wirtschaftsräumen eines echten Wiener Kaffeehauses nach wie vor keine Hintergrundmusik gespielt wird. Hält man sich bei Vollbesetzung in einem solchen Raum auf, dann dröhnt einem eine ungefilterte Mischung aus Stimmengewirr und Geschirrgeklapper in den Gehörgängen wie der Lärm auf einem orientalischen Basar, wie Kampfgeschrei und Kriegsgetümmel auf offenem Schlachtfeld, wenn nicht sogar wie das ohrenbetäubende Gekreisch der Vogelschwärme in Hitchcocks Horrorklassiker. Das heißt aber: Was sich in diesen so harmlos daherkommenden Wiener Einrichtungen abspielt, ist letztlich nichts anderes als die ungeschützte Konfrontation der protagonistischen Einzelfigur „Kaffeetrinker“ mit einer wimmelnden, mannigfaltigen, kaum zu konturierenden chorischen Umgebung – eine Konstellation, die in der Tat den eigentlichen Kern der Tragödienform bildet. Was wiederum...