Stück
Schamfrist und Schamgrenzen
Anmerkungen zum Monolog „Schamherbstfuge“
von Avishai Milstein
Erschienen in: Theater der Zeit: Puppen- und Figurentheater (06/2024)
Für einen Richter a. D. ist eine sogenannte Schamfrist die Zeitspanne, in der er sich der Beschäftigung mit Interessenkonflikten erzeugenden Angelegenheiten enthält, bevor er wieder als Rechtsanwalt arbeiten darf.
Sei es aus taktischen Gründen oder aber aus tatsächlicher Rücksichtnahme wird eine Schamfrist eingehalten, bis die wirklichen Absichten einer Person offengelegt werden dürfen.
Verwitwete durchleben eine Schamfrist, bis sie nach dem Todesfall bereit sind, wieder zu heiraten, und Schuldner dürfen mit ihr ab dem vereinbarten Rückzahlungstermin bis zum ersten Strafaufschlag rechnen.
Für die Opfer des 7. Oktobers, die das Massaker irgendwie zu überleben vermochten, wurde der darauffolgende Herbst eine traumatische Hölle auf Erden, deren Schamgrenzen sich bis in eine feindliche Zukunft hin erstrecken, voll mit Verdacht, Ablehnung und Abscheu.
Woher nahmen diese Juden wieder einmal die Chuzpe, in diese quasi gerechte Opferverkleidung hineinzuschlüpfen? Wem gehört die Scham? Denen, die per Zufall keinen tödlichen Schuss abbekommen haben? Denen etwa, die es nicht geschafft haben, sie zu retten? Oder denen, die einen Wandel von der gebrandmarkten Position zionistischer Kolonial-Schergen zu der von hilflosen Posttraumatikern beargwöhnen?
Der Monolog „Schamherbstfuge“ ist der zweite Teil einer Trilogie, die im Rahmen des Projekts „Schreiben über die Situation“ entstand. Initiiert vom Institut für Neue Soziale Plastik wurde dieser...