Kafkas Bruder
Erschienen in: Recherchen 123: Brecht lesen (06/2016)
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Brecht und Kafka zusammenzudenken, scheint manchem vielleicht immer noch – zumindest auf den ersten Blick – verwegen. Und doch finden sie sich bei einigen bedeutenden Theoretikern und Künstlern in einem gemeinsamen Horizont reflektiert. Deren Interesse an Kafka und Brecht deutet auf tiefere, vielleicht verborgenere Ähnlichkeiten, ja Gemeinsamkeiten hin, als es das Schema der üblichen Rezeption vermuten lässt.
Auffallend ist schon die Parallele, dass beide Autoren eine Lehrgattung, zum einen das Lehrstück (Brecht), zum anderen die Parabel (Kafka), aufgreifen, sie aber gleichsam gegen den Strich bürsten. Bei Kafka handelt es sich nicht um parabolisch verkleideten Sinn, sondern um sozusagen „blinde Parabeln“ – ein glücklicher Begriff, den man Gerhard Neumann verdankt. Sie erweisen sich als Parabeln, die in der Form einer verkleideten Sinnaussage das Aussagen des Sinns gerade in Frage stellen. Recht betrachtet, handelt es sich aber bei Brecht ebenfalls um die Simulation einer Lehre. Was die Lehrstücke wirklich zu lehren haben, ist eher die Grenze alles Lehrbaren als die berüchtigten Weisheiten, dass der Regen von oben nach unten fällt. Ihre Lehre geht vielmehr auf eine Leere, das Lehrstück ist ein Leerstück. Für Kafka gilt, dass sich diese Erkenntnis weithin durchgesetzt hat, verbunden mit der anderen, dass Kritik des Sinns nicht...