Theater der Zeit

Thema

Coming of Age

Wer werden wir gewesen sein? – Ein literarischer Blick auf die Krise unserer Lebensformen und eine Epoche im Umbruch

von Alexander Eisenach

Erschienen in: Theater der Zeit: Safety first – Theater in Zeiten von Corona (05/2020)

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Marta verwendete für ihre Arbeit einen Fiskars-Solid-XL-Laubbesen. Sie führte das ausladende Gartengerät entschlossen über die schon stark von Moos durchsetzte Wiese, wobei der Kamm kleine Stöckchen und altes Herbstlaub aufwarf. Marta bildete kleine Haufen aus pflanzlichen Überresten. Ihr gefiel der Gedanke, die Spuren des letzten Jahres später mit der Schubkarre abzutransportieren. Bevor der Frühling richtig beginnen würde, hätte sie eine gewisse Ordnung in die Verhältnisse ihres Gartens gebracht. Das federnde Tanzen, das die Zinken des Rechens auf dem spröden Rasen aufführten, erfüllte Marta mit einer unbestimmten Freude. Diese kraftvolle Elastizität war ihr in dieser Ausprägung noch bei keinem Rechen zuvor aufgefallen. Bei Geräten, deren Kamm aus Metall hergestellt wurde, hatte sie das Federn immer eher als labbrig und störend empfunden. Beim Fiskars ­Solid XL war Kunststoff verwendet worden. Das Rechen erinnerte damit stärker an ein kraftvolles Bürsten als an eine klassische Gartentätigkeit. Marta riss signifikante Mengen Moos aus der Wiese, was sie nun vollends in jene Momente versetzte, in denen sie sich ausgestattet mit einer Tangle-Teezer-Haarbürste, sitzend auf dem Badewannenrand, ihrer Haare annahm.

Als Kind hatte Marta oft das Laub unter den Apfelbäumen im Kleingarten ihres Opas zusammengeharkt. Jetzt fragte sie sich, ob dieses Gefühl tiefer Ruhe und Versunkenheit auch damals schon da gewesen war. Vermutlich. Rechen war stets ihr favourite unter den Gartenarbeiten gewesen.

*

Wir treten in einen Zustand der Zeitlosigkeit ein. Die Koordinaten ­unserer narrativen Zeitstruktur beginnen zu erodieren: Deadlines. ­Osterferien. Arbeitszeiten. Premieren. Die Gesichter in der morgend­lichen U-Bahn. Der Berufsverkehr. Das Trödeln vor dem Warenangebot. Das Fertigwerden. Abschließen. Abgeben. Aufhören und wieder Anfangen. Als hätte man uns die Aussicht genommen, weil man uns vergessen hat zu sagen, wohin das führen soll. Was der Zustand danach sein soll. Denn das haben wir gelernt und verinnerlicht: Das alles einen Sinn hat, weil es einen zukünftigen Zustand herstellen wird, nach dem wir uns sehnen können. Und jetzt ist das alles egal? Wir bleiben einfach zu Hause?

Ich schaue auf leere Straßen, die – wie ich – ihrer Erzählstruktur beraubt sind. Sie liegen brach. Eine ungeheure Ruhe breitet sich aus. Buffering. Da dreht sich dieser Kreis, und man weiß nicht, wie lange noch genau, aber plötzlich, da wird der Film wieder anspringen, unvermittelt wird mitten im Satz weitergesprochen, geschossen, gerannt, gefickt. Das Gefühl gleichermaßen pausiert und beschleunigt zu sein. Fühlt sich ein historischer Moment so an? Still?

*

Ich verstehe nicht, wie jemand freiwillig einen Laubbläser verwenden kann.

Peer nickte. Er trank Augustiner Helles aus der Flasche und schloss bei jedem Schluck die Augen. Wie sie jetzt beide im blendenden Licht der schon kräftigen Märzsonne voreinander standen – Marta die Hand am Stiel ihres Fiskars Solid XL, den sie lotrecht zur Wiese hielt und Peer biertrinkend, den Kopf mit ­geschlossenen Augen zurückgelegt –, hätten sie das Cover einer Landlust-Ausgabe schmücken können. Ein Gedanke, den beide teilten und der ihnen nicht unangenehm war. Im Gegenteil. Im Grunde ging es genau darum.

Es ist, wie wenn man aufs Meer schaut. Die Gleichförmigkeit und Genauigkeit der Handlung zersetzt das Zeitempfinden.

Peer nickte.

Es gibt ja diesen Gedanken, dass unsere Vorstellung des Zeit­ablaufs nur eine Strategie ist, die uns an die Fertigungsprozesse der Warenwirtschaft gewöhnen soll. Und dass das wirkliche Wesen der Zeit verschüttet liegt unter den Verwertungsprozessen, die wir auf unser ­Leben anwenden.

Peer legte seine Stirn in leichte Runzeln und gab Marta durch einen angenehm sonoren Nasallaut zu verstehen, dass er gern mehr erfahren würde.

Na, du weißt schon. Eben die Idee, dass Zeit zirkulär abläuft. Dass alles immer da ist und wir Zeit viel stärker als ein ätherisches Sein denn als eine lineare Kausalkette begreifen sollten.

Peer nickte jetzt wieder.

Vielleicht ist es so: Wenn eine Handlung oder Bewegung reiner Selbstzweck wird, also von sinnstiftender Bedeutung befreit wird, dann öffnet diese Handlung den Blick auf eine anderes Raum-Zeit-Kontinuum.

Aber deine Handlung hat doch einen Sinn. Du säuberst die Wiese. Schau: Wie gesaugt. Peer kniete sich sogar hin, als er das sagte und strich mit der Hand­fläche über die makellos gerechte Wiese. Ganz schön viel Moos …

Aber darum geht es ja nicht. Also erst mal schon, ja. Aber dann. Dann verselbstständigt sich das, das Rechen.

Hm. Verstehe.

*

Im Auge des Orkans werden wir erwachsen. Wir schauen uns selbst zu. Wir entdecken staunend unseren Körper im Raum. Es ist die Möglichkeit, ganz herauszutreten – solange man nicht systemrelevant ist. Also Spargelstecher, höre ich. Für alle nicht Systemrelevanten spielt die eigene Zwangslage keine Rolle mehr. Sie haben nichts mehr in der Hand außer allen Möglichkeiten. Die revolutionäre Situation des Selbst. ­Maximale Chance bei maximaler Tatenlosigkeit. Maximale Panik bei maximaler Gelassenheit. Maximale Langsamkeit bei maximaler Beschleunigung. Das Jetzt löst sich auf. Das Ich löst sich auf. Der Damm ins Zukünftige bricht. Die Epidemien der Vergangenheit rauschen an uns vorbei, strömen in Richtung dessen, was wir sein könnten.

*

Ich denke, es ist richtig, dass wir uns für die Landoption entschieden haben, sagte Peer und öffnete sein zweites Augustiner.

Voll. In Berlin würde ich es jetzt nicht aushalten.

Ja. Klar. Aber ich meine auch als Gestus. Wir umarmen das Gebot der Isolation, statt uns ihm einfach nur zu beugen.

*

Ein Patrouillenwagen biegt um die Ecke. Eine knarzende Lautsprecherstimme mahnt die Menschen, nicht ihre Häuser zu verlassen. Vorstellbar ist auch der Patrouillenwagen, der die Leute aus den Häusern zur Arbeit fordert.

*

Peer und Marta waren sich immer einig darüber, dass es ein Zeichen von Reife war, das Leben zu umarmen. In ihrem Umfeld gab es viele Menschen, die ihr Leben wie eine Art Persona behandelten und es selbstverständlich fanden, beliebige Rollen ihres Selbst zu entwickeln. Mit einem gewissen Stolz analysierten sie die Mechanismen ihrer Verfasstheit und führten dabei Begriffe wie unternehmerisches Selbst und desidentifizierte Arbeit im Munde. Auf eine selbstverständliche Art und Weise gingen sie davon aus, dass das Leben, das sie die meiste Zeit ihres Tages führten, nichts mit ihnen zu tun hatte. Stattdessen gingen sie von einer Art Tiefe und Wahrheit aus, die sich vorzugsweise im Verborgenen befand und bestenfalls überlagert war von den Zwängen eines diffusen Marktes. Der Clou dieser Distinktionsspielchen schien es zu sein, dass man sich in einem Akt fatalistischen Zynismus in die Feier der eigenen Entfremdung stürzte.

*

Wir begreifen, dass das Denken über unsere Zukunft bisher im Raum der Uneigentlichkeit stattgefunden hat. Es war übermütiges Kinderspiel, das kein Risiko barg, weil es aufgehoben war im Gefühl der Unveränderlichkeit unserer Rahmenbedingungen. Unser Spiel war nie durchdrungen vom Gefühl der Wirklichkeit. Denn wie sich das anfühlt, Wirklichkeit, das wissen wir erst jetzt. Wenn Geschichte sich ereignet, treten wir beiseite und schauen andächtig zu. Das Gedankenspiel läuft uns voraus. Das ist ungeahnt.

*

Marta bezeichnete derlei Gedanken als kindisch, wohingegen Peer sie stärker als Selbstflucht oder zumindest als eine Art Entschuldigung für den eigenen Lebensentwurf betrachtete.

Du bist eben nachsichtiger, sagte Marta dann oft.

Abstand zu der eigenen Rolle gewinnen, um sich dadurch selbst näher zu kommen, das fanden beide im Grunde idiotisch. Viel entscheidender war es doch wohl, diese Rolle perfekt auszufüllen und zu verstehen. Diese ausgelagerten Sehnsüchte, so schien es beiden, waren doch nicht mehr als ein Trostpflaster ­dafür, dass man nicht das Leben lebte, das man leben wollte. Alles wurde ins Morgen projiziert, in eine Zukunft, die man noch ­gestalten wollte. Eine Zukunft, die zu denken man lernen müsse. Anstatt sich der Dinge aber tatsächlich anzunehmen, war man in Wirklichkeit glücklich, im Jetzt verweilen zu dürfen. Der kritisch-analytische Blick auf das eigene Leben erlaubte eine gewisse ­Faulheit und Nachlässigkeit, schließlich war man ja erfüllt von der Gewissheit, dass es das hier eben nicht sei. Also: Why bother? Doch: Auf welches Selbst konnte man sich jetzt berufen? Jetzt, wo der Bezugsrahmen weggekürzt wurde. Nein, es war vollkommen ­offensichtlich, dass die sogenannte Oberfläche das Einzige war, was lohnte, sich damit auseinanderzusetzen, und dass die Vor­stellung von Tiefe ein feiges Zurückweichen vor der Realität des Daseins war.

Zu diesem Themenkomplex herrschte also im Wesent­lichen Einigkeit zwischen Peer und Marta und so kam es, dass auch Peer das mehrstündige Rechen im Garten für sich entdeckte. Er musste schmunzeln bei dem Gedanken an ihre Freunde, die wahrscheinlich sofort zum Spaten gegriffen hätten, um ein Beet umzugraben und dem sinnlos stumpfen Boden einen Sinn abzutrotzen. Das Bild gefiel ihm und bestärkte ihn in seiner Tätigkeit. Was könnte wahrhaftiger sein, als jene Pflege der Oberfläche, die das Rechen darstellte? Und war es für diese Wahrhaftigkeit nicht unerlässlich, dass seine Arbeit eben keinen Sinn erfüllte? Dass sie nicht der Fruchtbarmachung des Bodens diente, sondern im strikten Sinne ästhetisch war? Peer dachte, dass sie beide seit langem nicht mehr die Zeit zu einer derart konsequenten künstlerischen Handlung gehabt hatten.

*

Jetzt werden wir wissen, wer wir sind. Im Erwachen in der Leere eines Morgens, der auf nichts weist, das wir noch sein werden, der uns nicht versendet ins Miteinander der Produktivkräfte. Wir bekommen eine Ahnung davon, was es bedeutet, wenn die Kräfte der Geschichte walten und wir spüren, wie wir darin erwachsen werden, wie die Leichtigkeit schwindet, mit der wir bisher mit den Kategorien unseres Lebens ­jonglierten. Wir spüren, dass wir kein Gedankenexperiment sind. Wir spüren unsere Realität und wir verstehen, was das ist: Jetzt. Gestern. Morgen. Langsam drehen wir uns um und schauen zurück auf die, die wir waren.

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