Theater der Zeit

Und nun ist Krieg

Ein Vorwort

von Sabine Kebir

Erschienen in: Recherchen 23: Brecht und der Krieg – Brecht-Tage 2004 (01/2005)

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Nach anfänglicher Begeisterung für den Ersten Weltkrieg schrieb der Gymnasiast Eugen Berthold Friedrich Brecht einen Klassenaufsatz, der erst Entsetzen und dann ein Disziplinarverfahren auslöste. Der Schüler legte den vorgegebenen Horaz-Vers »Dulce et decorum est pro patria mori« als quasireligiösen Patriotismus und Zweckpropaganda aus und provozierte damit gegen die »vaterländische Gesinnung«. Sowohl in Trommeln in der Nacht als auch in Mann ist Mann geht es dann um die Frage, ob der kleine Mann von einer staatlich sanktionierten Kriegsmaschinerie zerrieben wird. Der die Armee bloßstellende Kanonen-Song war es auch, der 1928, während der Uraufführung der Dreigroschenoper, das Eis im Publikum brach und zum ersten tosenden Szenenapplaus führte. Vor allem wegen der Legende vom toten Soldaten wurde Brecht von den Nazis gehasst und schließlich ausgebürgert. Das Stück Mutter Courage und ihre Kinder ebnete ihm nach dem Zweiten Weltkrieg schließlich eine triumphale Rückkehr in die deutsche Kulturöffentlichkeit.

Mit seinen Gedichten, Liedern und Dramen, die den Krieg bekämpften, war Brecht in beiden deutschen Staaten umstritten. Dass die kleinen Leute im Krieg verlieren, wenige große jedoch profitieren - diese gerade in Deutschland nicht selbstverständliche Auffassung hat sich auch dank der anhaltenden Popularität seiner Dichtungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer mehr durchgesetzt. Das hing auch damit zusammen, dass Brecht nach Hiroshima und Nagasaki seine Haltung zum Krieg änderte. Der »Superfurz« namens Atombombe übertöne »alle Siegesglocken«, hatte er in sein Journal notiert. Diese neue Waffe machte die Asymmetrie des modernen Kriegsgeschehens so augenfällig, dass er die von Lenin inspirierte Auffassung aufgab, ein als Eroberungskrieg begonnener Krieg könne und müsse von den beteiligten Völkern in einen revolutionären Krieg gegen die Herrschenden umgewandelt werden. Damit war er zwar noch kein Pazifist - einen Verteidigungskrieg hielt er nach wie vor für legitim -, aber Brecht wurde nun auch für pazifistische Kreise rezipierbar.

Seine Antikriegsdichtung und sein auch hier stets ökonomisch grundiertes Denken hat bei den großen Demonstrationen im Vorfeld des 2003 begonnenen und immer noch nicht beendeten Irakkriegs eine große Rolle gespielt. So lag es nahe, die Brecht-Tage 2004 unter das Motto » Brecht und der Krieg« zu stellen. Wie aktuell gerade die in den vergangenen Jahrzehnten als historisch empfundenen Stoffe und Themen wieder für ein großes Publikum geworden sind, zeigt das scheinbare Paradox, dass die Musik der Stücke und Lieder nicht mehr nur in modern aufgepeppter Form zu hören ist, sondern immer wieder auch eine Annäherung an die originale Orchestrierung versucht wird. Diese »Historisierung« hatte schon Klaus Emmerichs Inszenierung der Massnahme wie auch Claus Peymanns Mutter im Berliner Ensemble zu potenzierter Wirkung verholfen. In Brechts Terminologie entsteht dadurch ein Verfremdungseffekt. Bezeichnend ist, dass dieses Risiko heute sogar Laien wagen. Am ersten Abend der Brecht-Tage, im großen Saal der Akademie der Künste, rief der in den hochstimmigen Originaltonarten ausgerichtete Vortrag von »Liedern und Texten aus vergangen geglaubten Zeiten« durch den Münchener Gewerkschaftschor Quergesang, die Agitpropgruppe Roter Wecker und das Hanns-Eisler-Orchester so manche Irritation, abschließend jedoch anhaltenden Beifall hervor.

Die Beiträge des vorliegenden Dokumentationsbandes versuchen hinter der Popularität des Werks problematische Entwicklungen, Brüche und auch Sackgassen zu entdecken. Schon der Eingangsbeitrag von Herfried Münkler fördert Überraschendes zutage. Er erkennt in den die zwischenstaatlichen Kriege ablösenden »neuen Kriegen« des ausgehenden 20. Jahrhunderts die Aktualität der MUTTER COURAGE. So sind z. B. in den gegenwärtigen Regionalkriegen in Afrika wieder Familien im Begleittross. Wie die privat agierenden Warlords und das wieder entstehende Söldnerwesen meinen auch diese Kriegstrossfamilien, dass ihr Überleben nur gesichert ist, wenn der Krieg nicht aufhört. Während Münkler aber Brechts Auffassung infrage stellt, dass Kriege nur aus ökonomischen Interessen geführt werden, sieht Mario Scalla sie weiterhin bestätigt. Es sei nach wie vor von großem Interesse, dass Brecht sich nicht wie die meisten anderen Kriegsautoren oder auch Kriegsfilme der existenziellen Situation des Kriegs zuwandte, um menschliche »Gefühle und Eigenschaften [...] auf ihr produktives oder zerstörerisches Potenzial« hin auszuloten. In der Massenkultur gehe es stets darum, ob und wie sich der Einzelne in der Extremsituation »Krieg« bewähren könne. Dagegen werde bei Brecht der Mensch im Krieg als Teil einer Maschinerie gezeigt, deren unbedingtem Willen er sich unterwerfen muss. Dass Brecht nach Wegen suchte, aus diesem Dilemma herauszukommen bzw. es gar nicht erst entstehen zu lassen, wirke auch heute anregend. Scalla schließt sich Frederic Jameson an, nach dem die Analyse der Gesellschaft für Brecht immer die Möglichkeit des produktiven Widerspruchs bot. Während die Postmoderne versucht habe, nur noch von Antinomien zu sprechen, liege Brechts Bedeutung heute darin, Wechsel und Fluss der Dinge als unaufhebbar zu betrachten. Hans Peter Neureuters Beitrag untersucht Brechts zustimmende Haltung zum Hitler-Stalin-Pakt und das daraus resultierende Unverständnis für die Politik Finnlands. Selbst nachdem er miterlebt hatte, dass die Bevölkerung Kareliens nach der sowjetischen Besetzung fast vollständig floh, hatte er kein Verständnis dafür, dass Finnland und auch andere Länder Skandinaviens ihr Souveränitätsstreben eher im Bündnis mit Hitlerdeutschland als mit Stalins Sowjetunion gewahrt sahen. Dass für Brecht - freilich unter anderen Vorzeichen - Souveränität an sich offenbar keinen großen Wert darstellte, dürfte heute sowohl für Kritiker als auch für Befürworter der Globalisierung interessant sein. Wie sehr er damals noch an der Vorstellung des revolutionären Volkskriegs festhielt, zeigen seine JOURNAL-Aufzeichnungen. In Unkenntnis des geheimen Zusatzprotokolls des deutsch-sowjetischen Pakts hielt er Stalins Einmarsch in Polen noch für das Vorspiel des von ihm gewünschten Angriffs auf die ebenfalls in Polen eingefallenen deutschen Truppen. Daher befremdete ihn die napoleonische Form der sowjetischen Kriegsführung. Neureuter stellt ein aus dieser Zeit stammendes, bislang unbeachtet gebliebenes Stückfragment vor, in dem Stalin, Molotow und Woroschilow heimlich den Bruch des Hitler-Stalin-Pakts und damit den Weitermarsch Richtung Deutsches Reich beschließen. Das kuriose Fragment zeigt, dass Brecht im Kreml damals tatsächlich noch eine Art rationales Zentrum der Weltrevolution vermutete.

Brechts Vorstellung vom Ende aller Kriege in einer sozialistisch dominierten Welt ist heute hinfällig. Jedoch lassen sich die Vorschläge zur Konfliktbearbeitung, die in seinem Konzept des Lehrstücks enthalten sind, auf ihre Aktualität hin durchdenken und mit dem andersgearteten Ansatz des heutigen »Dramenspiels« konfrontieren. Während Letzteres die Identität des Einzelnen mit dem Ziel stärken will, seine Konfliktfähigkeit zu erhöhen, versucht das Brecht'sche Lehrstück das bewusste Aushandeln von unlösbar scheinenden Widersprüchen einzuüben. Sein Grundanliegen besteht darin, den Umgang mit Gewaltphänomen in einer Weise zu trainieren, die es den Mitwirkenden unmöglich macht, Widersprüche zu verwischen oder über diese »hinwegzuspielen«, vielmehr werden die Spielenden zum Aushandeln einer neuen Synthese angeregt, die inhaltlich über den Textrahmen hinausweist.

Florian Vaßen weist auf eine von der Forschung bislang übersehene Parallele zwischen Brecht und Freud hin. Wie dieser sah er einen unversöhnlichen Antagonismus zwischen dem Glücks bzw. dem Triebverlangen des einzelnen Menschen und den von der Zivilisation notwendig vorgegebenen Beschränkungen. Deutlicher als andere Autoren habe Brecht den Widerspruch zwischen Asozialität und Sozietät z.B. mit Figuren wie Baal, Fatzer, Puntila, Schweyk, dem Glücksgott u.a. gestaltet. Freud blieb hinsichtlich von Lösungsmöglichkeiten äußerst zurückhaltend. Auch Brecht hielt den Widerspruch selbst für nicht aufhebbar, aber er teilte Freuds Kulturpessimismus nicht, sondern versuchte, den Umgang mit Widersprüchen zu thematisieren, da er hierin dessen Produktivität erkannte. Hinsichtlich der Möglichkeit einer künftigen Gesellschaft, die dem Glücksanspruch des Einzelnen besser gerecht würde, war er optimistischer. Auch wo der Krieg nicht im Zentrum steht, sondern Angst, Gewalt und Tod, ist die Art, wie damit im Lehrstück umgegangen wird, durchaus auf den Krieg extrapolierbar. Die Texte werden nicht deklamiert, die Situationen sollen vor allem gestisch, d. h. körperlich umgesetzt werden. Bei aller von Brecht gleichzeitig geforderten Distanz, so Vaßen, erlebe der Spielende schließlich Gewalt und Tod so intensiv, dass sich sein Blick auf »die abstrakte Gewalt und die fernen Kriege in den Medien« sensibilisiere und Haltungen geändert werden können. Von ähnlichen, aus einer vieljährigen Praxis als Spielleiter Brecht'scher Lehrstücke gewonnenen Erfahrungen berichtet Reiner Steinweg. Im Unterschied zu Brecht selbst, der das Ändern seiner Texte durch die Spieler durchaus zuließ, ist Steinweg in seiner Praxis davon abgekommen, mehr als einen neuen Schlusssatz zuzulassen. Die Beibehaltung des Textes ist der Garant, dass der Antagonismus erhalten bleibt. Da der Text nicht auswendig gelernt, sondern so lange wie nötig abgelesen wird, ist es leichter, den Widerspruch in körperlich manifeste Haltungen umzusetzen. Die Ergebnisse sind - bei Verwendung desselben Originaltextes - unterschiedlich. Je nach Spieler können sich ausagierte Gewalt und Macht verstärken oder auch abschwächen. Wodurch solche Akzente zustande kommen, klärt oft erst die nachfolgende Diskussion. Steinweg bestätigt, dass das Spielen der Lehrstücke ähnliche Ziele verfolgt wie die Friedens- und Konfliktforschung, die bezeichnenderweise heute nicht mehr von »Konfliktbewältigung«, sondern von »Konflikttransformation« spricht, d. h. der Überführung eines Konflikts in eine Verhandlungsform. Wie in den Lehrstücken wird untersucht, mit welchen Haltungen ein nicht gewalttätiges Verhalten des Konfliktgegners hervorgelockt werden kann. Viele Teilnehmer an Workshops bestätigen, dass sie ein neues Verhältnis zu Machtfragen bekommen haben. Je mehr Menschen, so Steinweg, in Lehrstückspielen oder anderen Arbeitsformen die konkrete Erfahrung machen, also am »eigenen Leib spüren, dass Konflikte ohne Gewalt und ohne Sieger und Besiegte geklärt und in produktive Streitformen überführt werden können, desto geringer wird die Wahrscheinlichkeit, dass >Härte< und >Durchgreifen< die politischen Leitwerte und Grundmuster bleiben oder werden.«

Jule Koch berichtet über unterschiedliche Theaterpraxen in Tansania, die sich von Brechts Lehrstücktheorie herleiten, wenngleich dort mit anderen Texten gearbeitet wird. Seit den siebziger Jahren werden hier unter Einbeziehung traditioneller afrikanischer Theatertechniken Laienprojekte entwickelt, die zur Stärkung der Eigeninitiative bei der Lösung von Konflikten und zur Verbesserung der Lebenssituation beitragen sollen. Dabei kann es auch um Konflikte gehen, deren Schärfe der der Brecht'schen Lehrstücke nicht nachsteht, wie z. B. die Aidsproblematik. Hier kann das Ausleben des Triebs die Zerstörung anderer Menschen, schließlich der ganzen Gesellschaft nach sich ziehen. Koch zeigt, dass der zunehmende Einfluss ausländischer Geldgeber auch Form, Inhalt und gewünschte Ergebnisse des »Theatre of development« beeinflusst, womit es zwar immer noch ein Ferment von Entwicklung ist, sich aber doch von Brechts Intention zu entfernen scheint.

Auf die Ursprünge von Brechts Antagonismusverständnis verweist Martin Lauermann. Er zeigt, dass sich sein Marxismus von Anfang an vor dem Hintergrund seiner China-Leidenschaft entwickelte. Die altchinesische Philosophie, für die er sich in den frühen zwanziger Jahren zu interessieren begann, basiert nämlich größtenteils - auch wenn es sich scheinbar um philosophische Traktate handelt - auf militärstrategischem Denken, dessen »Signifikanten« Weisheit und Zweifel waren. Brecht - und auch Mao Tse-tung - musste dieses Denken allerdings hegelianisieren, denn die alten Chinesen hielten die Versöhnung von Widersprüchen letztlich doch für möglich. Es ist wahrscheinlich Brechts bedeutendes kryptisches Vermächtnis, dass er, kurz nach der Entgegennahme des Stalin-Friedenspreises, auf die Frage, welches der in letzter Zeit gelesenen Bücher für ihn das wichtigste sei, ohne Umschweife Maos Traktat ÜBER DEN WIDERSPRUCH nannte.

Ein auch heute noch faszinierendes Thema ist die Kriegsfotosammlung, die Brecht mit Ruth Berlau zusammentrug. Viele der Fotos klebte er in sein JOURNAL und versah die Fotografien mit Vierzeilern. 1944 bezeichnete er diese epigrammatischen Kommentare als »befriedigenden literarischen Report über die Exilzeit«. Grischa Meyer kontrastiert Brechts subversive Intention mit der offiziellen Bildgeschichtsschreibung, die, beginnend mit dem Altarfries von Pergamon, ideologische Ziele verfolgte. Goyas DESASTRES DE LA Guerra, die die Kriegsgräuel aus der Perspektive der gequälten Zivilbevölkerung zeigen, stellen jedoch einen echten Vorläufer dar. Brecht könnte durch Goya ferner inspiriert worden sein, Bilder und Texte miteinander zu verbinden. Wichtig ist Meyers Hinweis, dass dieselbe Art von Fotos unter dem Vorwand der Verletzung von Menschenrechten heute zu den verschiedensten, auch gegensätzlichen politischen Manipulationen instrumentalisiert wird. Erdmut Wizisla belegt, dass sich Brecht bewusst war, wie wenig die Kriegsfotografie gegen den Krieg auszurichten vermag. Gerade deshalb wurde er angeregt, zu bestimmten Fotos jene Epigramme zu dichten. So entstand die K.RIEGSFIBEL. Lange unter Pazifismusverdacht stehend, konnte sie erst zehn Jahre nach Kriegsende publiziert werden. Mit »einem Selbstbewusstsein, das als Frechheit empfunden werden musste«, beschwerte sich Brecht über das durch Ministerpräsident Grotewohl selbst verhängte Publikationsverbot. Wahrscheinlich weil sie zehn Jahre zu spät publiziert worden war und nun propagandistisch gegen die »Bonner Kriegstreiber« instrumentalisiert wurde, fand die KRIEGSFIBEL zunächst nur wenig Beachtung. Umso mehr prägte sie die Schüler, die an ihrer Edition beteiligt waren. Peter Palitzsch, der an ihrer endgültigen Gestaltung entscheidenden Anteil hatte und dessen eigene Laufbahn ohne diese Erfahrung wohl anders verlaufen wäre, weist auf seine ungebrochene Bewunderung für die Epigramme hin. Günter Kunert zollt Brechts Dichtung Respekt, zeigt sich aber skeptisch hinsichtlich der Nachhaltigkeit ihrer politischen Wirkung. Ernst Schumacher berichtet von seinen Gesprächen mit Brecht über die KRIEGSFIBEL. Einige Jahre nach ihrem Erscheinen unternahm er ein ähnliches Projekt zum Thema »Kalter Krieg«, das als Serie in einer Tageszeitung erschien. Was Brecht an den Kriegsfotos und vor allem auch an den Fotos der Führer der kriegsführenden Länder interessierte, zeigt ein Film Peter Voigts über eine von Brecht selbst gestaltete Mappe mit weiteren Fotografien, aus der hier nur Ausschnitte publiziert werden können. Käthe Reichel, letzte pathetische Verwalterin von Brechts geistigem Erbe, umreißt in einem »Brief« an Brecht einen großen Bogen um die gewaltträchtigen Großereignisse unserer Zeit: Krieg, Gewalt, Flucht, Lüge und Verdummung.

Im Nachhinein ist festzustellen, dass das Thema »Brecht und der Krieg« in einer Tagungswoche zwar viele Facetten beleuchten, keineswegs aber ausschöpfen konnte.

Sabine Kebir
Berlin, Januar 2005

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