Schwerpunkt
Zentrum für alle Künste und ihr Publikum
Das Théâtre Massalia in Marseille
Erschienen in: IXYPSILONZETT: IXYPSILONZETT 01/2015 – Ein Blick in das frankophone Kinder- und Jugendtheater (03/2015)
Assoziationen: Kinder- & Jugendtheater

Offenheit für alle Künstler und Sparten kennzeichnet die Arbeit des Théâtre Massalia als Teil des Kunst- und Kulturzentrums La Friche la Belle de Mai in Marseille. Neben der Begleitung der Künstler und der Recherche nach innovativen Formaten steht die Arbeit mit Multiplikatoren und den Kindern und Jugendlichen selbst im Mittelpunkt des Theaters, das an verschiedenen Orten im Viertel Belle de Mai aktiv ist, einem der ärmsten Viertel im gesamtfranzösischen Vergleich.
Ein Mann. Allein auf der Bühne. Mit dem Rücken zum Zuschauerraum. Ein Laptop mit Webcam. Und eine Leinwand, die als Spiegel funktioniert. Dort entdecken die winkenden Kinder im Publikum sich selbst und die Vorderseite des Darstellers. Die Bühne und ihre Ausstattung sind minimalistisch und Alessandro Sciarroni bewegt sich darauf als einzelner Performer. Das Publikum verfolgt den Kör- per des Tänzers auf der Bühne und leicht zeitversetzt und verfremdet auf der Leinwand. Wie in einem Spiegelkabinett faszinieren die grotesken verzerrenden Effekte der Kamera, die eine Begegnung mit dem Bekannten im Fremden möglich machen.
Im Rahmen des jährlichen Marseiller Festivals für zeitgenössischen Tanz Dansem (Danse contemporaine en Méditerranée) präsentiert das Théâtre Massalia „Joseph_Kids“ des italienischen Tänzers und Choreographen, eine Weiterentwicklung seines tänzerischer Selbstportraits von 2011. Diese Koproduktion ist Beispiel der Arbeitsweise und der Schwerpunktsetzung des Kinder- und Jugendtheaters. In der Zusammenarbeit mit lokalen Strukturen und internationalen Künstlern thematisiert Massalia Interaktionsmöglichkeiten von Jugendlichen und digitalen Medien.
Als Kollektivprojekt verschiedener Künstler und Disziplinen begonnen
„Diese Arbeit soll den Kindern zeigen, dass man mit der Technik spielen und Dinge erschaffen kann, ohne sich zu entfremden“ sagt Sciarroni. Dabei funktioniert das Stück für ein Publikum jeden Alters. Und es ist eigentlich egal, ob man lustig findet, wie sich der Performer vor und mit der Webcam verhält oder ob man in die Einsamkeit des Individuums eintaucht, das in der eigenen Spiegelung ein Gegenüber sucht.
Das Théâtre Massalia wird 1987 gegründet und im Zentrum steht damals vor allem die Arbeit mit Marionetten. Es ist zu dieser Zeit das einzige Marionettentheater mit einem festen Spielort in Frankreich. Als dem damaligen künstlerischen Leiter, Philippe Foulquié, 1992 die alte Tabakfabrik nördlich des Bahnhofs St. Charles in Marseille angeboten wird, gewinnt das Projekt an Stabilität und Offenheit. Die Brache („la Friche“) entwickelt sich zu einem Kollektivprojekt verschiedenster Künstler und Disziplinen, wobei das Marionettentheater bis Anfang der 2000er im Zentrum steht. „Die Marionetten sprachen vor allem ein junges Publikum an, ohne zu traditionell zu sein“ sagt Emilie Robert, die heutige Leiterin des Theaters. Gleichzeitig manifestierte es damit die künstlerische Maxime, die bis heute charakteristisch ist: Pluridisziplinarität und Offenheit, was traditionelle Zuschreibungen von Künstlern, Sparten und den dazugehörigen Publika betrifft. So sind derzeit die Marionetten denn nur noch eine Disziplin unter vielen. Tanz, Zirkus und andere Formate assoziieren Künstler verschiedenster Disziplinen und sprechen Zuschauer aller Alters- und heterogener sozialer Gruppen an.
Das Publikum Sciarronis verfolgt nach dem Dialog zwischen Performer und seinem eigenen Bild, wie er Kontakt zu einer anderen Person über Skype aufnimmt. Die Tänzer verwandeln sich bald in Batman und Robin auf der einen und der anderen Seite des Bildschirms und begegnen sich in einem melancholisch-tänzerischen Pas de deux im dritten Raum des Bildschirms. Sciarroni reflektiert die Repräsentation des Selbst und des eigenen Körpers über das in der übermedialisierten Welt heute allgegenwärtige Medium der Webcam. Ob für Kommunikation, Inszenierung oder Information spielen wir als Nutzer moderner Medien bereits in jungem Alter mit digitalen Repräsentationsformen des Selbst. Sciarroni will vor allem den jungen Zuschauern und „potentiellen Performern“ zeigen, welche poetischen Möglichkeiten diese bieten.
Begleitung der Künstler und des Publikums
Im Zentrum der Arbeit des Théâtre Massalia steht heute die Beglei- tung der Künstler, über die bloße Bereitstellung finanzieller Mittel hinaus. Zudem widmet es sich gemeinsam mit anderen Strukturen in Marseille, die sich an ein junges Publikum wenden, der Recherche nach innovativen Formaten. Ein dritter Schwerpunkt ist die Bereitstellung von Dokumenten und Material zu einzelnen Künstlern oder Stücken für Lehrer, Professionelle, Eltern und Sozialarbeiter. Regelmäßig werden dafür Workshops, Lesekomitees oder Künstlergespräche organisiert. Die Idee ist, dass diese Gruppen als Multiplikatoren funktionieren und in einem nächsten Schritt Kinder und Jugendliche ins Theater mitbringen. Massalia verfügt dabei weder über einen festen Spielort noch eine feste Truppe. Typisch für die französische Theaterlandschaft werden, anders als an deutschen Stadt- und Landesbühnen, Schauspieler jeweils für die einzelnen Produktionen angestellt. Allerdings, meint Leiterin Robert, wird zunehmend weniger Geld für eigene Produktionen ausgegeben.
Inhaltlich ist Massalia stark im Viertel der Belle de Mai verwurzelt, das auch der Friche ihren Namen gibt. La Friche la Belle de Mai, heute eines der Kunst- und Kulturzentren Marseilles, liegt in einem der ärmsten Viertel im gesamtfranzösischen Vergleich, das durch Arbeitslosigkeit, die vor allem die Jugendlichen betrifft, und soziale Missstände gekennzeichnet ist. Nachdem die Gelder, die in den 80er und 90er Jahren für die Kultur in Frankreich zur Verfügung standen, stetig sinken, verändert sich die Verantwortung der Künstler. Robert spricht von einer französischen Tradition der Heiligsprechung von Kultur und der Notwendigkeit, sie heute davon zu befreien. Das Kulturhauptstadtjahr Marseille-Provence 2013 hat dafür ihrer Meinung nach richtige Impulse gesetzt. Die Friche, die von vielen Anwohnern zunächst als Festung wahrgenommen wurde, öffnet sich und viele Kulturschaffende gehen auf die Straße und arbeiten zunehmend im öffentlichen Raum. Und so ist auch Massalia an verschiedenen Orten des Viertels aktiv, lädt Bewohner ein, ein spontanes Regal-Museum in einem Kino mit Alltagsgegenständen zu bestücken oder präsentiert kleine Formen von Marionettentheater auf dem Fahrrad.
Potentiale für soziale Integration und internationale Öffnung
Passend zum Engagement für Jugendliche und digitale Medien ist die Teilnahme Massalias am europäischen Projekt Platform Shift +, in dem es einer von elf europäischen Partnern ist. Für das auf vier Jahre angelegte Projekt wurden im Rahmen des Förderungszweigs der Europäischen Kommission Creative Europe gerade zwei Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Als deutscher Partner ist das tjg. theater junge generation aus Dresden mit dabei. Ziel ist es zu untersuchen, welchen Einfluss Kenntnisse innovativer digitaler Technik auf transnationale künstlerische Arbeit und Zuschauerentwicklung haben können. Die Nutzung der neuen Medien soll zur besseren Vernetzung und dem Austausch von Expertise und Ideen im Theaterbereich beitragen. Neben Theaterproduktionen, die während der Projektlaufzeit entstehen, können Jugendliche mit den internationalen Professionellen in lokal organisierten Workshops zusammentreffen. Einer dieser Workshops wird von Massalia organisiert in der Friche in Marseille stattfinden.
Das Théâtre Massalia ist unter den siebzig Organisationen, die in der Friche la Belle de Mai ihre Büros haben, eine der aktivsten. Auch wenn das Kulturzentrum mittlerweile von einer eigenen Verwaltung koordiniert wird, verkörpert das Theater die Grundsätze des Kollektivs: das Potential von künstlerischer Arbeit für soziale Integration und von internationaler Öffnung. Die Zusammenarbeit mit anderen Strukturen in Marseille reicht von einem stabilen Austausch mit dem Nationaltheater La Criée hin zu punktuellen Projekten, die aus einem gemeinsamen künstlerischen Interesse entstehen, wie beispielsweise bei Alessandro Sciarroni und dem Festival Dansem. Neben dem Stück „Joseph_Kids“ für Kinder ab sechs Jahre wurde übrigens auch eine Version für Jugendliche ab 14 entwickelt. Dort nimmt der Performer während der Vorstellung Kontakt per Chat auf und weiß nie, auf wen er trifft: einen Manager aus New York oder einen Jugendlichen aus der Belle de Mai.