Gespräch
Aus der Hand des Verbrechens
Der Theatermacher Ángel Hernández über die Errettung von Orten, die von Gewalt und Verfall geprägt sind, im Gespräch
von Ángel Hernández und Gabriel Yépez
Erschienen in: Theater der Zeit Spezial: Mexiko (03/2015)
Assoziationen: Nordamerika
Die soziale Notlage, in der sich Mexiko befindet, hat Zündstoff für eine Reihe szenischer Ausdrucksformen geliefert; sie drängen auf die Bretter der Wirklichkeit und wollen dort Sinn stiften. Zu den wichtigsten zählt das Festival Teatro para el Fin del Mundo – la escena en estado de emergencia (Theater für das Ende der Welt – die Bühne im Ausnahmezustand) in Tampico im Bundesstaat Tamaulipas: Fortlaufend besetzen und bespielen hier Künstler Räume, die dem Verfall überlassen und von einem gewaltgeprägten Umfeld gezeichnet sind. Zu nennen ist auch das Festival de la Bestia – encuentro artístico multidisciplinario para el migrante (Festival der Bestie – interdisziplinäres Künstlertreffen für Migranten). Es findet in einem Güterzug statt, der Mexiko mit Tausenden illegalen lateinamerikanischen Migranten an Bord von Süden nach Norden durchquert. Beide Initiativen werden vom Dramatiker Ángel Hernández geleitet. Er ist auch Autor von Stücken wie „Hollywood: abominables criaturas“ (Hollywood: Armselige Kreaturen) und „Padre fragmentado dentro de una bolsa“ (Zerstückelter Vater im Plastiksack).
Ángel Hernández, wie würden Sie Ihre Theaterarbeit beschreiben?
Als ein weiteres Projekt, das überlebt hat. Es entstand und entwickelt sich in einer Zeit wachsender Gewalt, einer Zeit, in der Gesellschaften auf eigene Faust um ihren Fortbestand ringen müssen. Ich glaube, dieses Projekt ist eine Antwort auf seine Herkunft: Es kommt aus einer Stadt (Tampico; Anm.d.Red.), die vom Vergessen geprägt ist, von einer Geografie der Gewalt, vom Verfall. Aus einer Stadt, die in Schutt und Asche liegt, die Opfer eines Regimes ist, das den Terror als Herrschafts- und Vernichtungssystem hochhält.
Aus welchen Komponenten setzt sich Ihr Arbeitsansatz zusammen?
Teatro para el Fin del Mundo umfasst ein Programm, dessen einzelne Komponenten auf der Errettung von Räumen beruhen. Es sind Räume, die bereits errettet wurden: durch den Verfall und durch das Bedürfnis, diese Räume aus der Natur des Vergessens heraus zu begreifen. Wir glauben, dass diese Räume uns gerettet haben, uns als Gesellschaft. Sie bieten uns den einzig möglichen Weg, um aufstrebende Orte für szenische Ausdrucksformen zu schaffen.
Wie bewerten Sie Ihre Arbeit der letzten Jahre?
Eine angemessene Bewertung sollte eines berücksichtigen: Wir haben es zwar nicht geschafft, die Gewalt zu vermindern, aber wir haben ihr eine andere Bedeutung verliehen. Eine angemessene Bewertung sollte uns anerkennen lassen, dass unser Kampf sich nicht gegen die schlechte Regierung richtet oder gegen in den Drogenhandel verwickelte Verbrecherorganisationen. Er liegt vielmehr in der Notwendigkeit begründet, uns selbst als Zeugen eines Augenblicks herauszufordern, der für den Wiederaufbau des Landes entscheidend ist.
Was waren die größten Herausforderungen, denen Sie sich gestellt haben?
Am Aufbau eines Netzwerks von Stützpunkten zu arbeiten, die aus Räumen bestehen, die wir aus der Hand des Verbrechens zurückgewonnen haben. Das zeigt nicht nur, dass das Besetzen von Gebäuden ein gangbares System ist. Aus der Veränderung heraus schafft es sogar Widerstände gegen die Gewalt, die das Land im Griff hat. Wie kann Ihr Theater für die Zuschauer Sinn stiften? Im selben Maß, wie unser Beitrag als Vehikel ideologischer und sinnlicher Auseinandersetzungen dient, oder vielmehr: Schlagkraft. Das Land durchlebt gerade eine sinnreiche Zeit des Aufstands angesichts der Ruinen, die von der Gerechtigkeit geblieben sind. Darin liegt ein klares Beispiel für einen Gemeinschaftssinn, der die kritische Neuerfindung einer möglichen Zukunft bedeuten kann. //