Magazin
kirschs kontexte: Treibstoff Tragödie
Von der Pest der Äquivalenz
von Sebastian Kirsch
Erschienen in: Theater der Zeit: Song of Smoke – Der Regisseur und Musiker Thom Luz (05/2015)
Die Schwierigkeit, am Ende des 20. Jahrhunderts Tragödien zu schreiben, erklärte Heiner Müller in einem seiner letzten Ge- spräche mit Alexander Kluge so: „Die Bildzeitung ist ja eigentlich jetzt das Medium für Tragödien – also was in der Antike im Theater stattfand, ist jetzt notiert in der Bildzeitung.“ Und wirklich: Dass das mehr ist als ein böser Witz, hat Bild im März wieder eindrücklich bewiesen, als sie der Katastrophenlust an der Zerstörung der Germanwings-Maschine freien Lauf ließ („Hier der Todespilot vor der Golden Gate Bridge, die unter Selbstmördern eine Art Kultstatus genießt“). Aber mehr noch: Die Bildzeitungsvariante der Tragödienfaszination – die natürlich längst nicht mehr auf Bild beschränkt ist und sich am liebsten in den Livetickern auch der „Qualitätsmedien“ austobt –, sie zeitigt inzwischen Wirkungskaskaden, an die Müller noch nicht denken konnte, da sie einer sehr veränderten medialen Umwelt entspringen. Überzeugend ist das Problem zuletzt von Jean-Luc Nancy diskutiert worden, in einem Essay, dessen Anlass eine andere Großkatastrophe der letzten Jahre war: „Nach Fukushima“. Es geht Nancy um die Vehemenz, mit der in der technologisch hochgerüsteten und ver- netzten Kosmopolis des 21. Jahrhunderts jedwedes Geschehen, das auf der einen Seite der Welt spielt, gewissermaßen in Echtzeit auf ihrer anderen Seite...