12.1 Spezifik aus der Perspektive der Zuschauer
Erschienen in: Improvisationstheater – Die Grundlagen (10/2018)
Vor einer Weile sah ich in einem Workshop eine Szene, die ungefähr so begann:
A: „Vater?“
B: „Ja, Sohn?“
A: „Ich will dich etwas fragen.“
B: „Was denn, Sohn?“
A: „Ich will heute bei einem Schulfreund übernachten.“
B: „Ist das nicht der Sohn der Lehrerin?“ (…)
Obwohl die Prämisse durchaus interessanten Inhalt verspricht, stimmt etwas nicht mit der Szene, sie wirkt irgendwie blutleer. Es fehlen Namen und Konkretes. Vielleicht spricht hier und da noch jemand seinen Vater mit „Vater“ an. Aber ich habe noch nie jemanden getroffen, der seinen Sohn unironisch „Sohn“ nennt. Sowohl Schulfreund als auch Lehrerin würden in einem normalen Gespräch mit Namen genannt werden. Der Impuls der Spieler ist hier offenbar, einander und dem Publikum klarzumachen, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen und zu erklären, worum es geht. Das gelingt ihnen zwar, aber um einander wirklich zu inspirieren und das Publikum wirklich mitzunehmen, denken sie zu technisch-abstrakt.
Das Allgemeine ist der Feind der Kunst. Das Spezifische ist ihr Freund.
Als Zuschauer (oder Leser, Hörer, Betrachter) sind wir stets vom Spezifischen fasziniert. Das Spezifische ist plastisch und detailreich. Das Allgemeine bleibt flach und schablonenhaft. Wir interessieren uns allenfalls in einem abstrakten Sinne für Konzepte und Plots, sind aber...