Theater der Zeit

von Veronika Darian

Erschienen in: Recherchen 109: Reenacting History: Theater & Geschichte (02/2014)

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Von well made lives, dem Alter und den Dingen

Schauplatz der Biographie – Kracauer und die ‚Dramaturgien der Fügung‘

Biographien scheinen sich heute eines ungebrochenen Interesses zu erfreuen, dem sich auch das Theater ganz offensichtlich nicht zu entziehen vermag. Den Biographieboom der dreißiger Jahre leitete Siegfried Kracauer noch aus der zu beobachtenden Krise des Subjekts ab, die aus dem Aufeinanderprall vom Subjekt und der „Geschichte, die sich uns eingebrockt hat“1, zu resultieren schien. Angesichts der folgenschweren und zutiefst erschütternden politischen, kulturellen und technischen Entwicklungen seit der Jahrhundertwende erlebte sich der Einzelne seiner Vollzugsgewaltentledigt, bar jeglicher Autonomie und empfundenen Konsistenz. In dieser krisenhaften Situation fungierte Biographie nach Kracauer als willkommener Kitt für die brüchig gewordene Subjektkonstitution des neubürgerlichen Individuums.

Heute, so könnte man vermuten, schließt die Biographie potenziell abermals sich auftuende Lücken, diesmal allerdings nicht (nur?) die des Subjekts, sondern die der Geschichte beziehungsweise der als brüchig erfahrenen Geschichtsnarrative selbst. Als Schrift gewordene Lebensgeschichte kann Biographie als das kleinste Unterpfand der Geschichte beziehungsweise Geschichtsschreibung gelten und damit sowohl als kleinste (Erscheinungs-)Form einer „bestimmten Philosophie der Geschichte (gleich Abfolge von historischen Ereignissen)“ als auch „einer bestimmten Philosophie der Geschichte (gleich historische Schilderung)“2. Historiographie und Narration müssen hier als die beiden wirkmächtigen Muster für das (Be-)Schreiben von Leben ausgemacht werden. Beiden folgend, haben sich Geschichte wie Leben, mit Max Frisch gesprochen, einer ‚Dramaturgie der Fügung‘ zu beugen, die neben einer linearen Verlaufsform und einem „Hang nach Sinn“3 auch die Kittung und Verfugung potenzieller Bruchstellen im Lebens-Schrift-Bild impliziert.4

Inwiefern aber sollte Biographie als Kitt fungieren können? Eine Antwort verspricht das Kompositum Bio-Graphie selbst: Leben schreiben zu können. Der Entwicklungsbeziehungsweise Bildungsroman galt lange Zeit als ein Hort und Quell idealer Lebens-Schreibung, doch wurde das darin vermeintlich lediglich beschriebene zunehmend als erschriebenes Leben kenntlich.5 Die artifizielle Herstellung eines in sich geschlossenen Lebenslaufs vermochte in ihrer Brüchigkeit und Konstruiertheit weder die Befriedung noch die Befriedigung des Subjekts zu garantieren. So wurde die Suche nach anderen, faktualen Formen des tatsächlichen Lebens virulent, in denen die Sehnsucht nach dem wahren Leben Erfüllung finden sollte. Entsprechend änderte sich in den Spielen der Moderne ganz offensichtlich der Einsatz: Leben (bios als sinnhaftes und zweckgerichtetes Leben) wurde in allen Bereichen, ob Politik, ob Kunst und Kultur, in seiner Dimension des vermeintlich Faktischen beziehungsweise Realen zum kostbaren und gleichermaßen zentralen Verhandlungsgut.6 Über die Vorzüge der in den Biographien der dreißiger Jahre fokussierten „Leben [der] weithin sichtbaren Helden“ heißt es bei Kracauer dann auch pragmatisch: „Die Hauptperson der jeweiligen Biographie hat wirklich gelebt und alle Züge dieses Lebens sind dokumentarisch belegt.“7 Das Faktische fungiert hier allerdings weniger als Fakt, sondern vielmehr als Versprechen, das fiktiv hergestellt und entsprechend beglaubigt werden muss. In diesem Sinne fragt Kracauer rhetorisch: „Wird nicht die objektivität der Darstellung durch die historische Bedeutung des Urbildes verbürgt?“8, um letztlich den Schluss zu ziehen: „Seine Verbindlichkeit ist ganz offenbar eine Folge seiner Faktizität.“9 Damit objektivität und Faktizität gerade nicht als mühsam Hergestellte ersichtlich werden, müssen notwendigerweise unterschiedliche Strategien zur Legitimierung dieses Faktischen herangezogen werden. Der Rückgriff auf das Urbild reiht sich als Legitimationsmoment wie selbstverständlich ein in eine genealogische Erzählung, in ein natürlich wirkendes Narrativ. An prominenten Beispielen für derartige narrative Modelle mangelt es weder bezüglich historiographischer Gefüge noch hinsichtlich der Dramaturgien einzelner Leben. So finden sich in David Wark Griffiths Geburt einer Nation von 1915 sowie in der Rede vom ‚alten Europa‘ oder den ‚in Kinderschuhen‘ steckenden Staaten einzelne Lebensabschnitte wie Kindheit und Alter(n) mit Vorstellungen geschichtlicher Zusammenhänge naturalisierend verschränkt.10

Das Theater ist grundsätzlich nicht der Raum, der sich gegen solche Fiktionalisierungen, Naturalisierungen und Fetischisierungen historiographischer oder biographischer Konzepte sperrt, im Gegenteil: Das well made play spiegelt oft die Imagination eines well made life wider – oder stellt es durch die von Frisch kritisierte ‚Dramaturgie der Fügung‘ allererst her, ob nun inhaltlich konzeptionell im Was des Geschichtsdramas11 oder durch das Wie weithin unhinterfragter Verkörperungsprozesse. Doch ist im Theater hinsichtlich des Umgangs mit Biographie und Historiographie auch eine Tendenz zur expliziten Thematisierung und Problematisierung der ‚Dramaturgie der Fügung‘ zu bemerken. In Bezug auf literarische Phänomene haben sich hierfür Begrifflichkeiten wie „fiktionale Metabiographie“ oder „biographische Metafiktion“12 etabliert, die maßgeblich auf das selbstreflexive Moment eines Schreibens über das Schreiben von Leben verweisen. Ähnlich lässt sich auch im Theater eine Hinwendung zu den eigenen Vor-Schriften beobachten, in offenkundigen Inszenierungen über das In-Szenieren von Leben.

Schauplatz des Lebens I – She She Pops Testament oder von
‚Platzierungen und Platzwechseln‘

Ein augenfälliges Beispiel einer offen angelegten Lebens-Inszenierung ist Testament. Verspätete Vorbereitungen zum Generationswechsel nach Lear von She She Pop und ihren Vätern. Dass das Performancekollektiv gerade mit diesem Stück im Jahr 2011 die Aufnahme in den Inszenierungs-Kanon des Berliner Theatertreffens geschafft hat, dürfte der seit je gegen die Vätergeneration ostentativ aufbegehrenden Schwesternschaft durchaus missfallen haben. Allerdings wird genau dieser Generationenkonflikt als kontingente und veränderliche Konstellation auf die Bühne gebracht. Dabei dient ausgerechnet der kanonische King Lear als Vermittlungsinstanz und Verhandlungsmasse gleichermaßen, auf dessen Grundlage eine Familienvorstellung als Familienaufstellung gegeben wird.

Lear ist von vornherein weithin sichtbar, er thront gewissermaßen an der rechten Wand über der Szene in Form des projizierten Dramentextes, der auf der Bühne als Textrolle an ein Flipchart geklemmt ist. Das restliche Setting ist zu Beginn weniger deutlich zu erkennen, an der Bühnenrückwand lassen sich lediglich drei große leere Bilderrahmen erahnen und an der linken Seite stehen drei noch unbesetzte Sessel. Den Anfang bilden kurze Einlassungen der vier She She Pop-PerformerInnen, die, angetan mit weißen Halskrausen, das Publikum darüber aufklären, auf welche Weise man sich den Respekt ihrer Väter verschaffen könne. Die Vaterautoritäten werden trotz oder gerade wegen ihrer anfänglichen Abwesenheit auf der Bühne durch die moderierenden Kinder heraufbeschworen. Deren dann folgender leibhaftiger Auftritt, in schweren Stiefeln und von Trompetenstößen gesäumt, lässt keinen Zweifel daran, wer sich auf den nun erleuchteten Thronsesseln und – per Video-Live-Übertragung – in der aufscheinenden Ahnengalerie an der Rückwand platzieren darf. Die längste Zeit wird an dieser hierarchischen Positionierung nur gelinde gerüttelt. Die Königs väter, die für den Lear einzustehen haben, tragen ihre Deklamationen, Kommentare und Einwürfe meist von diesen Thronplätzen aus vor, während sich die Königskinder (die drei Töchter sowie der eingeschmuggelte Sohn) zwischen den Spielorten Flipchart, Mikrofon und Bühnenrampe bewegen. Doch birgt diese verhältnismäßig statische Väter-Position gegenüber der dynamischeren der Kinder bereits einen internen Autoritäts- beziehungsweise Rollenwechsel in sich: So entpuppen sich die Lear-Väter mitunter als im wahrsten Sinne fest-gesetztes Objekt der Beobachtung durch die Lear-Töchter-PerfomerInnen. „Wir sind die Bosse“, heißt es entsprechend im ersten der vielen nachgesprochenen Probenmitschnitte: als anfänglicher Verweis der Väter auf ihren Platz und als offenbar notwendige Vergewisserung der eigenen Position und Haltung der Folgegeneration.

Bevor der Lear-Text mittels seiner fünf Akte die grobe Einteilung des Abends vorgeben und in ausgewählten Ausschnitten in verteilten Väter- und Töchter-Rollen vorgetragen wird, fallen neben der szenischen Disposition zwei weitere Strukturelemente auf, die die Aufführung durchziehen: Dem Auftritt der Väter folgt zunächst ein gemeinsames Lied mit den Kindern, Something stupid als Zitat eines der berühmtesten generationenübergreifenden Paare der Pop-Geschichte: Nancy und Frank Sinatra. Es rahmt das Stück, durchklingt als Chorisches, allein Gesungenes, als Duett kurz vor Schluss und als Gehauchtes der Abschlusssequenz eines aufgeschichteten, von allen PerfomerInnen gebildeten Grabhügels die gesamte Inszenierung. Es wirkt als Reminiszenz, Assoziationsraum und affektiver Magnet fürs Publikum, das sich der emotionalen und darin distanzmindernden Wirkung kaum zu entziehen vermag. Insbesondere die Lieder des Abends verstehen es immer wieder, die sorgsam errichteten Reflektionsmomente einzureißen. Eines dieser Momente – und weiteres Strukturelement – stellen die bereits erwähnten, über Kopfhörer eingespielten Probenmitschnitte dar, die die PerformerInnen äußerlich nahezu unbewegt, oft mit geschlossenen Augen und an ihrem jeweiligen Ort verharrend, nachsprechen. In der Deklamation der Lear-Passagen scheint bisweilen mehr Identifikationskraft zu liegen als in der Wiederholung der eigenen verklungenen Worte aus der Probenzeit. Zusammen mit den gegenseitigen verbalen Herausforderungen und den kritisierenden Kommentaren aller aneinander, finden dadurch zunehmend Versetzungen innerhalb der vermeintlich festgelegten Hierarchien statt. Sie äußern sich im Wechsel der Positionen auf der Bühne, in dynamisch sich verschiebenden Dominanzen innerhalb der Auseinandersetzungen, im verschiedentlichen Buhlen um die Aufmerksamkeit des Publikums, durch Solo-Performance-Szenen und nicht zuletzt im Ineinanderschwappen der Offenlegung der Motivation der Dramenfiguren und der (vermeintlich) privaten PerformerInnen auf der Bühne.

Auf diese Weise kommt im Verlauf des Stückes eine doppelte Legitimationsstrategie zum spielerischen Einsatz, indem Lear das Leben und umgekehrt das Leben Lear zu beglaubigen hat. Der aufgelöste Generationenvertrag im Lear wird zum Ausgangspunkt der Auseinandersetzung der professionellen Performance-Kinder mit den alten Väter-Laien, deren Aufeinanderprall in privaten Belangen (wird man die eigenen Eltern im Alter aufnehmen?) bis zur Frage nach kulturellen Deutungshoheiten der alten versus der neuen Generation getrieben wird. Dies alles scheint zunächst ziemlich vertraut, dem geschichtlichen Modus einer Generationenabfolge abgeschaut – wie auch die durch schwere Bilderrahmen angedeutete Ahnengalerie unterstreicht, in die sich zuerst die Väterkönige, später auch die Königskinder gebannt finden. Zugleich aber geschieht es vor aller Augen, offen-sichtlich, als einstudiertes Familiendrama mit gutem Ausgang. Die Arbeitsweise des Performance-Kollektivs wird augenscheinlich, indem alle PerformerInnen, Väter und Kinder, ihre eigene Spaltung vorführen, indem sie ihr Performer-Sein mit den Rollenbildern (des Stückes unddes Lebens) verschränken und zugleich dezidiert voneinander trennen. Dies geschieht zum einen durch die Thematisierung der eigenen je wechselnden Bühnen-Rolle zwischen Privatperson, der Bühnenfigur gleichen Namens und den Dramenfiguren. Zum anderen wirkt die Konfrontation mit dem vermeintlich Eigenen (dem in der Vergangenheit Gesagten, persönlichen Statements, familiären Zugehörigkeiten und Ähnlichkeiten) eher distanzierend und entfremdend als identitätssichernd. Zum dritten treten der Bühnen-Körper, das mediale Bild und die Rollengestalt durch die szenische Disposition immer wieder auseinander und ermöglichen dadurch die zeitweilige Besetzung der frei gewordenen Positionen durch andere. Dabei sind die Rollen von Vater und Kind – und deren ausgestelltes Miteinander – immer auch als vor-geschriebene ersichtlich. Nicht zuletzt im Wechsel der Zuordnungen der biologischen Zugehörigkeiten (wer war doch gleich wessen Sohn/Tochter?) werden sie aufgeweicht und dadurch erst in ihrer (moralischen, sozialen, kulturellen) Wirksamkeit kenntlich gemacht. Das suggeriert authentische Zusammen-Leben auf der Bühne schaut sich so selbst bei der Herstellung zu.

In den Kritiken des Stückes13 und den Jurybegründungen mehrerer Auszeichnungen14 wird immer wieder auf den freimütigen Umgang mit intergenerationellen Konflikten und mit den darin verhandelten ethischen Implikationen hingewiesen, ebenso wie auf den für das Performancekollektiv bis dahin eher unüblichen Rückgriff auf klassisches Theatertextrepertoire.15 Was in den Rezensionen dagegen weniger in Erscheinung tritt, für die In-Szenierung (von Lebensgeschichte) aber eine bedeutsame Rolle spielt, sind die eingebauten „raffinierten Reflexionsschleifen“16 und deren mediales Arrangement. Gerade in den medialen Anordnungen unterbricht sich die letztlich wohlwollende intergenerationelle Erzählung der Eltern- und Kinderstimmen dauernd selbst und stellt die durch den Lear-Text zusammengehaltene Szenenfolge als eine durchaus mühevoll verfugte Familiengeschichte aus. So nimmt beispielsweise der dramatische Text in der Übertragung auf die (Performer-)Königsväter und -kinder zwar immer wieder flüchtige Gestalt an, zeigt aber zugleich seinen materiellen Widerstand, wenn an der Textrolle auf dem Flipchart mal ruckhaft gezerrt oder sie ein anderes Mal im Überspringen als unwichtig erachteter Szenen im Schnelldurchlauf abgespult wird. Auch der Umgang mit den Insignien des Lear – die von Kopf zu Kopf wechselnden Königskronen und Vätermasken aus Pappe oder der Herrscherstiefeltausch als Sinnbild eines Wandelns in viel zu großen Schuhen – vollzieht sich offen spielerisch. Ebenso wird durch die über Kopfhörer soufflierten und laut nach-gesprochenen (echten oder gestellten?) konfliktreichen Probengespräche nicht nur der Entstehungsprozess des Stückes ausdrücklich offen gelegt. In der dadurch vorgeführten Konfrontation mit (den eigenen?) vergangenen Äußerungen stellt sich insbesondere auch die Erfahrung von Fremdheit und Fremdbestimmung ein, die jegliche Authentizitätsforderung offenkundig und durchaus schmerzhaft parodiert.17 Nicht zuletzt kommen mediale Bild-Doubles der Beteiligten zum Einsatz, die in Echtzeit in die an der Rückwand platzierte Ahnengalerie eingespeist werden. Deren momentane Verfertigung stellt sich mit jeder Neuausrichtung der Kamera auf und vor allem durch den jeweiligen Darsteller als Gerangel mit dem technischen Gerät, aber auch mit dem um das Bild konkurrierenden Anderen heraus. Jede(r) begehrt des anderen Platz, des Publikums Gehör, des theatralen Geschehens Mittelpunkt, der Geschichte Held(in) zu sein.

In welcher Art und Weise also die Szene gestaltet ist – nämlich als Raum eines organisierten, gerichteten und zugleich begehrenden Blicks –, (er)scheint hier bedeutsam für einen anderen Zugriff auf Lebensgeschichte(n), als es die narrativ rundenden oder genealogisch einreihenden Erzählungen suggerieren und gleichzeitig poetologisch vorgeben. Die szenische Disposition, die She She Pop eröffnen, wirkt wie die theatrale Antwort auf Pierre Bourdieus Kritik an der ‚biographischen Illusion‘. Bourdieu spricht sich darin gegen den seines Erachtens fehlgehenden Versuch aus, „ein Leben als eine einmalige und sich selbst genügende Abfolge von Ereignissen zu verstehen, deren einziger Zusammenhang in der Verbindung mit einem ‚Subjekt‘ besteht“18. Entgegen dieser linearen und auf den Einzelnen fokussierten Betrachtungsweise entwirft er die Idee einer Netzstruktur, einer „Matrix der objektiven Relationen zwischen den verschiedenen Stationen“, in der die „biographischen Ereignisse [...] als ebenso viele Plazierungen [sic!] und Platzwechsel im sozialen Raum“ zu definieren seien.19 Damit bemüht sich Bourdieu nicht nur um eine adäquate Betrachtungsweise per se dynamischer Prozesse. Er verortet darüber hinaus das Subjekt inmitten sozialer, ökonomischer und kultureller Gefüge, die dessen Handlungen in bestimmten Feldern und zu bestimmten Zeiten immer in Relation zu anderen Subjekten, zu gesellschaftlichen Gegebenheiten und bestehenden Verhaltensnormen bestimmen. Versuchsweise ließe sich also formulieren, dass gerade die (theatrale) Szene als ein vor Augen geführtes Set von Plätzen und Positionen, als eine „Galerie der Zukunft“20, eine Möglichkeit bietet, jegliche symbolische ordnung eben als Lebens-‚Dramaturgie der Fügung‘, als eine sinngeleitete und verortende ordnung aufzuzeigen und potenziell zu verschieben. Eine szenische Schreibart von Bio-Graphie könnte dann gelingen, wenn sie nicht lediglich als autoreflexive Übung daherkäme, sondern einen explizit aus- und vorgeführten medialen Umgang mit dem Verhandelten pflegte. Selbstreflexion wäre dann nicht als Selbstzweck zu verstehen, es ginge nicht nur um ein Mehrwissen über den Apparat des Theaters, sondern im Besonderen um einen anderen, kritischen Umgang mit dem Wissen um die Notwendigkeit und Wirkmacht medialer beziehungsweise medial vermittelter (Subjekt-, Lebens- und Geschichts-)Konstitutionen. Dafür aber muss Theater seine eigene Medialität im wahrsten Sinne ins Spiel bringen21 – als aufgefächerte Szene verschiedener Erzählungen.

Schauplatz des Erzählens – Benjamins Netze, Schichten und Falten

Spätestens mit dem epischen Theater sickert das Erzählen in neuer Gestalt auf die Bühnen. In seiner Theorie des modernen Dramas22 sieht Peter Szondi nicht zuletzt in den vielfältigen existenziellen Krisen des anbrechenden letzten Jahrhunderts einen wesentlichen Grund für diese Entwicklung. So zeichnet auch Siegfried Kracauer in seinem bereits erwähnten Text zur Biographie als neubürgerliche Kunstform die Schritte von der Krise zur angestrebten Konsolidierung einer neubürgerlichen Klasse an einer Sonderform des Erzählens, der Biographie, nach. Deren Rückgriff auf Formen historisch-heldenhafter Lebensbeschreibungen müsse als eine Doppelbewegung von Flucht (Eskapismus) und Rettung (reaktionärer, musealer Formen von Gemeinschaft) begriffen werden, die sich beide der Ignoranz gegenüber aktuellen und tatsächlichen Gegebenheiten schuldig machten.23 In Abgrenzung dazu – und als Nebenprodukt seiner sozio-politischen Überlegungen zu einer notwendigen Neuformierung der gesellschaftlichen Klassen – fordert er eine „der verwirrten Welt angepasste [...] Form“, „in der die Verwirrung selber epische Form gewönne“24. Walter Benjamins sechs Jahre später entstandener Erzähleraufsatz25 lässt sich beinahe als eine Antwort auf Kracauers Appell verstehen, entzündet sich doch sein Interesse an der neu zu (er-)findenden Figur des Erzählers. Benjamin führt seine Klage über den zunehmenden Verlust der Erzählfähigkeit der Menschen als einem Schwinden des „Vermögen[s], das uns unveräußerlich schien, [...] [n]ämlich [des] Vermögen[s], Erfahrungen auszutauschen“26. Ebenso wie bei Kracauer scheint diese (Er-)Kenntnis, die von eben jenen Erfahrungen in und mit dem Ersten Weltkrieg durchdrungen ist, auch für Benjamin die Notwendigkeit eines anderen Erzählens nahezulegen. Noch vor dem Flügelschlag seines Angelus Novus wird sich auch diese neue Figur des Erzählers/Erzählens weder vom Geschehenen abwenden, noch dem Fortschreiten der Zeiten verweigern können. Jedwede Erzählung wird von nun an unhintergehbar vom Schrecken des Verlustes und der Erfahrung des Todes gezeichnet sein. Nach Benjamins Auffassung werde die „Erfahrung, die von Mund zu Mund geht [...], die Quelle, aus der alle Erzähler geschöpft haben“27, zunehmend verdrängt. Dies geschehe bereits seit dem Aufkommen des Romans zu Beginn der Neuzeit28 und werde zusätzlich durch eine neue Form der Mitteilung, durch die Information29 befördert. Und dennoch kann in dieserart Mit-Teilungen weiterhin die Triebkraft dieses neuen Erzählens ausgemacht werden. Doch weit entfernt von dem Wunsch nach reaktionärer Rettung oder blinder Flucht zeitigt dieses neue Erzählen eine andere Form der Verantwortung füreinander – und für sich selbst. Es verhehlt nicht sein Wissen um Anderes, um Vergangenes, Verhaltenes, Verschwiegenes, Unsagbares, Entrücktes, schlicht Abwesendes. Es wird dieses Wissen aus- und damit zur Disposition stellen müssen, indem es sich selbst dis-positioniert. Es hat seinen Ort zu finden, einen Platz an der Grenze zwischen Sag- und Nichtsagbarem, Zeig- und Nichtzeigbarem, Sicht- und Unsichtbarem, An- und Abwesendem. Nicht von ungefähr erinnert es an die Szene des antiken Theaters, schwankendes Grenzland zwischen Innen und Außen, zwischen der Anwesenheit des Todes und der Abwesenheit der Toten.30 Um eine Heimstatt zu erlangen,31 muss dieses neue Erzählen selbst szenisch werden.

Im Mittelpunkt dieser Szene befindet sich der Erzähler, der nach Benjamin seit je durch zwei Archetypen geformt ist: den „sesshaften Ackerbauern“ und den „handelstreibenden Seemann“.

Wenn Bauern und Seeleute Altmeister des Erzählens gewesen sind, so war der Handwerksstand seine hohe Schule. In ihm verband sich die Kunde von der Ferne, wie der Vielgewanderte sie nach Hause bringt, mit der Kunde aus der Vergangenheit, wie sie am liebsten dem Sesshaften sich anvertraut.32

Benjamin entwirft den Erzähler als einen Knotenpunkt, in dem in der Art eines Prismas zeitlich und räumlich Abwesendes zusammenfindet, um sich verwandelt wieder zu verbreiten. Hierzu beschreibt Benjamin Haltung und Vorgehen des Erzählers genauer:

„Seele, Auge und Hand [...] bestimmen [...] eine Praxis“, heißt es hier, als „[j]ene alte Koordination [...,] [die] die handwerkliche [ist], [...] wo die Kunst des Erzählens zu Hause ist. Ja, man kann weiter gehen und sich fragen, ob die Beziehung, die der Erzähler zu seinem Stoff hat, dem Menschenleben, nicht selbst eine handwerkliche Beziehung ist?“33

Diese handwerkliche Beziehung, die den Stoff, die eigene wie auch die fremde Erfahrung eines Menschenlebens gleichermaßen, in ein erzählbares, in Gemeinschaft teilbares Objekt wandelt, ist mitunter kein harmloses Unterfangen. So scheint die erzählerische Bearbeitung als Formung des Lebens/Lebendigen ihre Herkunft kaum verhehlen zu können. Objektwerdung und Mortifizierung sind Effekte dieses Vorgehens, die auch für Benjamin – im Gedenken an die kurz zurückliegende massenhafte und industrialisierte Vernichtung unzähliger Leben – unumkehrbar und unhintergehbar bleiben. Doch spielen dabei sowohl die Verfasstheit des Erzählers als auch die Art und Weise des Erzählens eine maßgebliche Rolle. Zur näheren Bestimmung der Erzählerhaltung beleiht Benjamin Paul Valéry:

Die künstlerische Beobachtung [...] kann eine beinahe mystische Tiefe erreichen. Die Gegenstände, auf die sie fällt, verlieren ihren Namen: Schatten und Helligkeit bilden ganz besondere Systeme, stellen ganz eigene Fragen dar, die keiner Wissenschaft pflichtig sind, auch von keiner Praxis sich herschreiben, sondern Dasein und Wert ausschließlich von gewissen Akkorden erhalten, die sich zwischen Seele, Auge und Hand bei jemandem einstellen, der im eigenen Innern sie aufzufassen und sie hervorzurufen geboren ist.34

Der Erzähler wird als ein aktiver Resonanzkörper begriffen, der, gleich einem eigenwilligen Echo35, das Erfahrene/Wahrgenommene aufzufassen und zugleich aufs Neue hervorzurufen vermag. Darin liegt immer schon ein Wandel, der weder unabhängig von den wahrgenommenen Gegenständen noch vom Wahrnehmenden selbst sich vollziehen kann. „Das Erzählen“, schließlich, „ist [...] keineswegs ein Werk der Stimme allein. In das echte Erzählen wirkt vielmehr die Hand hinein, die mit ihren, in der Arbeit erfahrenen Gebärden, das was laut wird [sic!] auf hundertfältige Weise stützt.“36 Darin spiegelt sich auf den ersten Blick ein hierarchisches Arrangement beziehungsweise Dominanzgefälle, als folgte die Hand lediglich den Worten, die gesprochen werden. Auf den zweiten Blick jedoch liegt in den in der Arbeit erfahrenen Gebärden und deren hundertfältiger Stützung dessen, was laut wird, bereits eine Relativierung dieses Gefälles: Es spricht, nach Benjamins eigenen Überlegungen, die er wenige Jahre zuvor zum epischen Theater Bertolt Brechts formuliert hatte, einiges dafür, dass sich die hier geforderten Gebärden nicht widerstandslos in Dienst nehmen lassen. So führt er in seinem Text Was ist das epische Theater? bereits 1931 dazu aus:

Gegenüber den durchaus trügerischen Äußerungen und Behauptungen der Leute auf der einen Seite, gegenüber der Vielschichtigkeit und Undurchschaubarkeit ihrer Aktionen auf der anderen Seite hat die Geste zwei Vorzüge. Erstens ist sie nur in gewissem Grade verfälschbar, und zwar je unauffälliger und gewohnheitsmäßiger sie ist, desto weniger. Zweitens hat sie im Gegensatz zu den Aktionen und Unternehmungen der Leute einen fixierbaren Anfang und ein fixierbares Ende. [...] Es ergibt sich daraus ein wichtiger Schluß: Gesten erhalten wir um so mehr, je häufiger wir einen Handelnden unterbrechen.37

In Gebärden, die alltäglichen Bereichen, v. a. der Arbeitswelt entnommen sind, hallen soziale Zusammenhänge nolens volens mit, es sind von vornherein geprägte, gezeichnete Gebärden, die nicht nur die Handlung, sondern auch jede gerichtete Erzählung unterbrechen. Somit wird dieses Erzählen durch das Miteinander von Seele, Auge und Hand nicht nur als eine pragmatische Praxis ersichtlich, sondern sperrt sich per se gegen jegliche Zu-Richtung, spreizt den Erzählenden und wandelt das Erzählen selbst in ein szenisches, gerade zwischen Seele, Auge und Hand oszillierendes.38 Der seelische, perzeptive und gestische Resonanzraum zeigt sich so als ein gespaltener, vielfach geteilter, aufgefächerter: Er teilt sowohl die Erzählerfigur selbst, er weist diese aber auch als Teil eines umfassenderen raum-zeitlichen Gefüges aus, das in sich bereits die Echos der und des vielfach Abwesenden trägt. Diesem vielfach Abwesenden kann die Erzählung im Allgemeinen, im Besonderen aber gerade die Lebens-Erzählung zur Gegenwärtigkeit verhelfen. Durch derlei Schichtungen, Übereinander- und Nebeneinanderlagerungen erweitert sie sich zur Szene, der Szene einer geteilten Gegenwart verschiedener Zeiten und verschiedener Zugriffe (Seele, Auge, Hand).39 Im (mit)geteilten Moment kann sie sich als gemeinsame Erfahrung des Vergehens entfalten.40

Wer einmal den Fächer der Erinnerung aufzuklappen begonnen hat, der findet immer neue Glieder, neue Stäbe, kein Bild genügt ihm, denn er hat erkannt: es ließe sich entfalten, in den Falten erst sitzt das Eigentliche: jenes Bild, jener Geschmack, jenes Tasten, um dessentwillen wir dies alles aufgespalten, entfaltet haben [...].41

Dadurch wird eine spezifische, mitunter widersprüchliche Erfahrung von Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit, auch verstanden als Geschichtetheit und Entfaltung von Erfahrung und Erinnerung möglich.

Die Besonderheit und Potenzialität dieserart Szene des Erzählens geben sich in ihr als eine andere, verfugte, geschichtete, aufgefächerte und entfaltete Raum-Zeit zu erkennen. Diese Szene des Erzählens verändert unumgänglich auch die Lebens-Geschichte. Diese wandelt das darin eingelagerte Entsetzen der Still-Stellung in ein beobachtbares und gleichzeitig erfahrbares Miteinander. Ein szenisches Erzählen des Lebens hält sich an, eher unterbrechende Pose und ausgestanztes Still42 als sinnhafter Lebens-Ausschnitt in Folge anderer zu sein. Mit Brecht formuliert, könnte und sollte dies sich äußern: nicht in „Spannung auf den Ausgang“, sondern in „Spannung auf den Gang“, nicht einem „linearen“ Verlauf folgend, sondern einem „in Kurven“ – anstatt „eine Szene für die andere“ „jede Szene für sich“ entfaltend.43

Schauplatz des Lebens II – Becketts Krapp oder eine Szene des Alters

„Eines Abends, spät, in der Zukunft. Krapps Bude.“44 Diese Beckettsche Szene des Alters – als Szene einer „wahren Gerontologie“45 – stellt sich zu Beginn als die heimelig unheimliche Szenerie eines zermürbten alten Mannes dar. Inmitten seiner lebenslang erprobten Requisiten und Rituale, zwischen dem ewigen Bananenvertilgen, der Klage über den unabdingbar folgenden harten Stuhlgang und dem alljährlichen Lebensrückblick auf Band scheint Krapp sich eingerichtet zu haben. Im Gewimmel der Altersfiguren, das viele der Beckettschen Texte beherrscht, nimmt er eine Sonderrolle ein, wird er doch durch die Regieanweisung zu Beginn dezidiert als alter Mann ausgewiesen:

Speckige schwarze Hose, die ihm zu eng und zu kurz ist. [...] Auffallendes Paar schmutzig-weißer Schnürstiefel [...]. Weißes Gesicht. Wirres graues Haar. Unrasiert. Sehr kurzsichtig (aber ohne Brille). Schwerhörig. Krächzende Stimme. Eigentümlicher Tonfall. Mühsamer Gang.46

Die Perspektive des Alters legt von vornherein den kritischen Blick auf ein gelebtes Leben nahe. Unwillkürlich drängen sich Erwartungen auf, die mit Vehemenz eine biographische Rückschau fordern und die – wenn schon kein gelungenes Leben in Anschlag gebracht werden kann, an dem man sich idealerweise orientieren könnte – so doch im Mindesten auf ein wohliges Differenzgefühl spekulieren. Doch wird diese Erwartung bald enttäuscht. Denn Krapp wird hier nicht nur als Alters-, sondern in Kostümierung und Verhalten auch als Clowns- oder Narrenfigur eingeführt – ein Narr, der kurz vor der Begegnung mit dem Tod die Begegnung mit sich selbst sucht. Mitnichten folgt man einem souveränen Monolog, es eröffnet sich vielmehr eine vielstimmige Auseinandersetzung, sobald Krapp mit seinen verschieden alten Alter Egos in Disput gerät. Dies geschieht auf dem medialen Umweg über Tonbänder, die Krapp seit mindestens drei Jahrzehnten jedes Jahr zu seinem Geburtstag aufnimmt. Man könnte vermuten, das titelgebende letzte Band erfülle die Funktion einer abschließenden Bilanzierung des mutmaßlich bald zu Ende gehenden Lebens. Doch dem suggerierten musterhaften Lebensrückblick auf ein gelungenes und erfolgreiches Leben setzt er unverhohlen und stur seine eigene nüchterne Bilanz entgegen. „Hörte mir soeben den albernen Idioten an, für den ich mich vor dreißig Jahren hielt, kaum zu glauben, daß ich je so blöde war. Diese Stimme! Gott sei Dank ist das wenigstens alles aus und vorbei.“47 Gerade durch die medial vermittelte Begegnung mit sich selbst, die von Selbst-Korrekturen und Missverständnissen zwischen den verschiedenen Krapps strotzt, wird die künstlich auferlegte ‚Dramaturgie der Fügung‘ eines zu gelingenden Lebens erst markiert und sichtbar gemacht. Das nie fertig gestellte, aber stetig beschworene Opus magnum gemahnt an die lebenstreibende und -bestimmende Produktivkraft des Werkschaffenden. Doch bleibt sie hier nicht länger nur nichteinholbares Ziel oder drohender „Schatten“48, die in Konsequenz die Lebensbilanz eigentlich negativ ausfallen lassen müssten, sondern wird als Phantasma des Ab(zu)schließenden vorgeführt. Denn Krapp hat eine Wahl – durch sein „kurzes Lachen [...], längeres Lachen49 und die Stopp-, Vor- und Rückspultasten. Er macht sich lustig, und zwar nicht nur über sein jüngeres Selbst und dessen hochtrabende Lebenspläne. Auch die Ernsthaftigkeit, mit der gemeinhin das biographische Projekt angegangen wird, ist vor seinem Spott nicht sicher. Die Lebensbeichte wird beständig unterbrochen: lachend und die Tasten drückend.

Schauerlich, diese Ausgrabungen, aber – Krapp schaltet ab, grübelt und schaltet wieder an – sie sind mir oft eine Hilfe, bevor ich mich anschicke, von neuem ... Er zögert ... Rückschau zu halten. Kaum zu glauben, daß ich jemals dieser junge Dachs war! Diese Stimme! Mein Gott! Und die Sehnsüchte! Kurzes Lachen, in das Krapp einfällt. Und die Vorsätze! Kurzes Lachen, in das Krapp einfällt.50

Parodistisch, im Handgemenge mit dem technischen Gerät, gerät der Generationenkonflikt mitunter zum Slapstick.

Band/kräftige, recht feierliche Stimme, die deutlich als Krapps ehemalige Stimme zu erkennen ist: Neununddreißig Jahre heute, kerngesund wie eine – Er will sich bequemer hinsetzen, stößt dabei das Register vom Tisch, flucht, fegt die Schachteln vom Tisch, stoppt das Band, schaltet ab, fegt Schachteln und Register ungestüm auf den Boden, dreht das Band bis zum Anfang zurück, schaltet an und lauscht wieder. Neununddreißig Jahre heute [...].51

Der Kampf zwischen den differierenden Vorstellungen verschiedener Altersstufen wird von einem (mit und in sich) geteilten Subjekt geführt und stellt sich in den gegenseitigen Unterbrechungen von Gehörtem, Gesagtem und Gezeigtem ständig selbst still. Nicht nur der Protagonist, auch der Zuschauende wird in doppeltem Sinne angehalten, die Auf-Teilungen, die Schichtungen und Risse, die sich auftun, zu betrachten. Krapp schlägt dem Schicksal ein Schnippchen, indem er beständig seine Lebenserzählung kappt. Doch wirkt er darin mitnichten souverän, seine Handlungen geschehen kaum bewusst, eher scheinen sie sich im wahrsten Sinne ein-/auszustellen: Ausschnitte nicht nur eines gelebten Lebens, sondern eines, das sich im Nachvollzug dem Nachvollzug entzieht. Die Brechtsche beziehungsweise Beckettsche Kurve verläuft hier über die einer eigenwilligen Logik zwischen Bewusstsein, Erinnerung und Gefühl folgende Bedienung des technischen Apparats. Diese entreißt den Lauf der Lebenserzählung mit jedem Hören der Chrono-Logik, zerstückelt sie, wertet sie um und setzt sie neu zusammen. Es scheint verlockend, dass die Fährten des biographischen Unterfangens weiterhin ausgelegt bleiben: die Mutter, die Arbeit, die Liebe, Spuren des Lebens, Fragmente des Ich. Die Versuche, ihrer (aufs Neue) habhaft zu werden, offenbaren sich allerdings als (Selbst-) Wieder-Holungen, teils im wörtlichen Sinne. „Und so weiter. Pause. Sei wieder, sei wieder. Pause. All dies alte Elend. Pause. Ein Mal war nicht genug für dich. Pause. Sink auf sie nieder. Lange Pause.“ Und kurze Zeit später vom Band: „Wir trieben mitten ins Schilf und blieben stecken. Wie die Rohre sich seufzend bogen unterm Bug! Pause. Ich sank auf sie nieder, mein Gesicht in ihren Brüsten und meine Hand auf ihr. [...]“52

Die vergegenwärtigte Erinnerung kann nur eine wiederholte, mühsam wiedergeholte sein, in Differenz zum Vergangenen, aufgeladen mit Sehnsucht, aber eben uneinholbar. Dieserart vergangene Ereignisse und der Versuch ihrer (immer fehlgehenden) Vergegenwärtigung aber werden flankiert von einer Ereignishaftigkeit der anderen Art. Denn, unversehens, verfängt Krapp sich in einem Wort, das zwar in jedem seiner Register auftaucht, dem aber in keinem eine eigentliche Bedeutung zukommt: „Genießerisch: Spule! Pause. Spuuule! – Glückliches Lächeln“.53 Im selbstvergessenen, „schwelgenden“54 Nachschmecken der Worte, diesen plötzlichen Ausdehnungen momenthaften Seins wird jegliche Linearität teleologischer Selbst- oder Theatererzählung schlicht unterlaufen, finden sich die Zeiten verschränkt, im Folgenden dem Augenblick überantwortet: „Glücklichster Moment der letzten fünfhunderttausend.“55 Das penibel geführte Register, die alljährlich aufgenommenen Bänder, die Suggestion eines technisch gesicherten Lebens-Gedächtnisses werden hier im Moment und für den Moment ad absurdum geführt. Das Potenzial dieser paradigmatischen Szene des Alters scheint nicht nur in der medial ermöglichten Umwertung der Zeitläufe zu liegen, die die Lebenslinie zum kurvenreichen Parcours werden lassen, auf dem in jeder Biegung die Pausentaste gedrückt werden darf. Insbesondere besticht eben jener aus- und vorgestellte Blick aus einer imaginierten Zukunft, dieser „eine Abend, spät, in der Zukunft“, an dem die Rückschau „hoffentlich schon ein wenig im Lichte meiner alten, zukünftigen Augen“56 zu erscheinen vermag. Dieser zukünftige Blick erhellt die Szene des Alters als eine spezifische Szene des Erzählens, die sich der Neugier und dem Interesse an der Gegenwart verdankt und die Vergangenheit als Teil beider ausweist.

Schauplatz des Lebens III – Die Szene der Dinge

Diese menschliche Lebens-Schrift flankierend, ist in dieser Beckettschen Szene aber auch eine Verschwörung der Dinge zu verzeichnen, inmitten derer der Protagonist stetig mit der Tücke der objekte zu kämpfen hat. Diese suchen die längst schon entlarvte Zweifelhaftigkeit eines gelungenen menschlichen Lebenslaufs ihrerseits zu unterfüttern, die sich bei Krapp bereits in den medial hervorgehobenen Missverständnissen57 ihren Weg in die biographischen Bilanzen bahnte. Die arglistige Bananenschale, die den ältlichen Protagonisten vor Beginn der zelebrierten Lebensschau beinah zu Fall gebracht hätte, verzögert den Lauf des Geschehens und Erzählens. Die ‚luderhafte‘, sich dem Zugriff entziehende Spule Nummer fünf58 versteht es, den nach ordnung heischenden Chronisten des eigenen Lebens im gestischen Überschwang den Tisch leer fegen und ihn dadurch den Lauf der Lebensbeichte unterbrechen zu lassen. Der Widerstand der objekte, die sich in ihrer eigenen Materialität und widerspenstigen Nutzung, in ihrer Benutztheit und Geschichtlichkeit zu erkennen geben, provoziert den menschlichen Körper, der sich – im beherzten Gerangel mit den Dingen – zu zeigen hat.59

Spätestens mit der Moderne fordern die Dinge eine gleichberechtigte Position neben dem Menschen. In einer Zeit, deren krisenhafte Erschütterungen den Einzelnen aus den vertrauten Bahnen zu schleudern drohen, hat dieser es schwer, sich seiner menschlichen Eigenheit zu versichern, während um ihn herum in Massen gestorben, für die Massen produziert und als Masse konsumiert wird. Die Natur, die Technik und die Dinge sollen nun den Hintergrund liefern, vor dem das Menschliche des Menschen – beim Einzelnen und in Gemeinschaft – besonders deutlich hervortreten kann: Gerade in Abgrenzung gegen das Nicht-Menschliche, Nicht-Lebendige, Nicht-Kultivierte, Mechanische, Objekthafte soll das Menschliche (eben als Lebendiges, Kultiviertes, Subjekthaftes etc.) an Profil gewinnen. Der allzumenschliche Impuls zur Grenzziehung gegenüber diesem Nicht-Eigentlichen, der zugleich die hierarchische Struktur der Beziehungen zwischen Mensch, Maschine und Ding klärt und bestimmt, lässt jedoch auch Lücken. Bruno Latour formuliert in seiner Kritik an einer vermeintlich fortschrittlichen, weil auf den Menschen fokussierten Moderne:

Das Menschliche läßt sich [...] nicht erfassen und retten, wenn man ihm nicht jene andere Hälfte seiner selbst zurückgibt: die Dinge. Solange der Humanismus sich im Kontrast zu einem Objekt bildet, [...] verstehen wir weder das Menschliche noch das Nicht-Menschliche.60

Und tatsächlich wimmelt es in vielen Texten der Moderne von lebendig gewordenen und durchweg eigenwilligen Dingen, die allesamt Verwandte des Kafkaschen Odradek61 zu sein scheinen. Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Dorothee Kimmich entdeckt vor allem in den Werken Benjamins, der als versessener Sammler in seiner Zeit, seiner Welt und den Werken seiner Zeitgenossen nach diesen Wesen fahndete, „gewissermaßen ein ganzes Museum lebendiger Dinge“62. Deren massenhaftem und drängendem Aufkommen entlehnt sie die Forderung nach einer „zeitgemäße[n] Kulturanthropologie [..., die] nach Wörtern und Sachen, nach Menschen und Dingen fragen [müsse]“63. Doch gerade der auch von Benjamin befragte Odradek, dieses „bucklicht Männlein“64, ist in seinem sinn- und zweckfreien und vor allem geschichtsvergessenen Dasein Sinnbild der Sorge des Hausvaters und darin enorme Herausforderung für das ordnungsliebende, zielstrebige und geschichtsversessene menschliche Subjekt.65

Worin aber könnte das Potenzial einer untereinander geteilten Erzählung von Menschen und Dingen liegen, wenn man nicht der Versuchung einer Re-Mythisierung oder Essenzialisierung des glänzend Dinghaften gegenüber dem hässlich Humanen verfallen will?66 Wieder werden wir bei Benjamin fündig. Als leidenschaftlicher Sammler faktischer und fiktiver Dinge räumte er ab und zu seine Bibliothek aus und fand sich dabei in einem besonderen Verhältnis zu den Dingen wieder, „das in ihnen nicht ihren Funktionswert, also ihren Nutzen, ihre Brauchbarkeit in den Vordergrund rückt, sondern sie als den Schauplatz, das Theater ihres Schicksals studiert und liebt67.

Zum einen fordert die Wortwahl des Schauplatzes, des Theaters dazu auf, diese Szenerie tatsächlich als Schau-Platz, als théatron, zu begreifen und die Dinge als Schau-Stätten einer (eigenen) Biographie zu entdecken.

Die so gesammelten Dinge haben ihre eigenen Physiognomien, gewissermaßen ihre eigenen Biographien. Diese lebendigen Dinge sind nicht zu verwechseln mit Gegenständen, denen man eine Bedeutung, eine Funktion zuschreiben könnte. [...] Lebendige Dinge sind gerade keine Buchstaben im Buch der Welt. [...] Sie sind nicht durchsichtig, sondern sie blicken zurück. Lebendige Dinge sind da, sie sind ‚präsent‘.68

Durch diese eigentümliche Präsenz fordern sie die Szene des Erzählens eigens heraus, die doch gerade als Grenzland zwischen Belebtem und Unbelebtem, An- und Abwesenden zu bestimmen ist.69

Wie als Antwort darauf fordert Benjamin zum anderen ein bestimmtes Verhalten an diesem Ort, einen bestimmten Umgang mit und in den Dingen, in dem sich diese Lebens-Erzählungen offenbar erst zu entfalten vermögen: das geneigte, liebende Studium eines „Physiognomiker[s] der Dingwelt“70. Denn wohlgemerkt treten bei Benjamin die Dinge nicht neben den Menschen. Sie bieten sich dem Sammler an, rufen ihn, in ihnen Wohnstatt zu nehmen – „nicht daß sie in ihm lebendig wären, er selber ist es, der in ihnen wohnt“71. So wird der sammelnde Mensch bei Benjamin zum Spurenleser der Physiognomien, zum Lauschenden fremder Biographien – und nicht zuletzt zum Beobachter seiner selbst in den Dingen. Was jedoch bieten sie dem Nicht-Sammelnden, der, nichtsdestotrotz vom Begehren getrieben, etwas über sich zu erfahren, sich der Dinge annimmt? Diesem machen die Dinge die Szene nur leidlich bewohnbar, denn sie weigern sich, sein Begehren zu erfüllen. Lieber tauschen sie ihren unfokussierten, fremdelnden, sprachlosen, menschenvergessenen „Kaspar-Hauser-Blick mit dem Nichts“72. Hier wären wir nun angelangt bei der Szene der Dinge ohne Mensch und zugleich bei einer Biographie der Dinge ohne Maßgabe des Menschlichen.

Die ‚Biographie des Dings‘ steht sicherlich noch aus, auch wenn der russische Schriftsteller und Futurist Sergej Tretjakow schon 1929 in seinem gleichnamigen Essay73 deren Vorteile gegenüber der des Menschen als dem Maß aller (auch biographischen) Dinge hervorhob und für eine „Revolution auf dem Fließband der Dinge“74 plädierte:

Die ‚Biographie des Dings‘ ist eine sehr nützliche kalte Dusche für die Literaten, ein hervorragendes Mittel, damit der Schriftsteller, dieser ewige ‚Anatom des Chaos‘, ‚Bezwinger der Elemente‘, sich in einen Menschen mit etwas zeitgemäßerer Bildung verwandele; vor allem ist die ‚Biographie des Dings‘ deshalb nützlich, weil sie die vom Roman aufgeblähte menschliche Persönlichkeit auf ihren Platz stellt.75

Man würde dem Roman fraglos Unrecht tun, würde er in all seinen Erscheinungsformen über einen Kamm geschoren.76 Auch die zeitgeschichtliche Gebundenheit des Tretjakowschen Ansatzes zur Stärkung und zum Einbezug des Kollektivs sei hier nicht verhohlen. Doch seine Vision, dass „vor allem [...] der Mensch in neuer, vollwertiger Gestalt vor uns [träte], wenn wir ihn auf dem Fließband der Erzählung wie ein Ding entlangfahren [ließen]“77, ist getrieben vom selben Wunsch und geprägt von derselben Erfahrung, die auch den Benjaminschen erzählerischen Handwerker auszeichneten. Als Nachhall der massenhaft verheizten, verdinglichten Leiber der Materialschlachten des Ersten Weltkriegs wirft die hier vorgestellte industrielle Verfertigung biographischen Erzählens die Frage auf, wie weit der Argwohn gegenüber einer menschlichen Lebenserzählung mittels der Dinge und Objekte in den Szenen von Literatur und Bühne reicht. Hinweise auf mögliche Antworten versprechen Beispiele, die – von den Gebrüdern Grimm über Walter Benjamin, Bertolt Brecht und Franz Kafka bis zu Heiner Goebbels – die Erzählungen vom Leben der Objekte selbst befragen.78 In schwacher Erinnerung an ein von Geschichte(n) umspültes Subjekt entfalten sich hier Szenen einer prekären, weil geteilten Aufmerksamkeit, der sich schließlich jegliches Erzählende zu versichern sucht. Das aufmüpfige Alter(n) und die drängenden Dinge liefern nur einige denkbare Gegen- als Neben-Pole in diesen Szenen der (ver)vielfach(t)en Lebens-Erzählungen. Es bleibt also noch viel zu berichten von den pluralen Schauplätzen des Lebens, auf denen immer schon eine eigene Geschichte des Menschlichen und Lebendigen zu erzählen sich anhebt.

„Kann er denn sterben?“, formuliert Kafkas Erzähler die vermutlich größte Sorge des menschlichen Hüters des lebensgeschichtlichen Hauses.

Alles, was stirbt, hat vorher eine Art Ziel, eine Art Tätigkeit gehabt und daran hat es sich zerrieben; das trifft bei Odradek nicht zu. Sollte er also einstmals etwa noch vor den Füßen meiner Kinder und Kindeskinder mit nachschleifendem Zwirnsfaden die Treppe hinunterkollern? Er schadet ja offenbar niemandem; aber die Vorstellung, daß er mich auch noch überleben sollte, ist mir eine fast schmerzliche.79

1Kracauer, Siegfried: „Die Biographie als neubürgerliche Kunstform“, in: Frankfurter Zeitung, Literaturblatt, 29. Juni 1930, S. 6. Wieder abgedruckt in: Fetz, Bernhard/Hemecker, Wilhelm (Hrsg.): Theorie der Biographie. Grundlagentexte und Kommentar, Berlin/New York 2011, S. 119–123. Die im Text zitierten Passagen folgen dem Wiederabdruck, hier S. 120.

2Bourdieu, Pierre: „Die biographische Illusion“, in: ders.: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt a. M. 1998, S. 75–83. Wieder abgedruckt in: Fetz/Hemecker: Theorie der Biographie, S. 303–310. Die im Text zitierten Passagen folgen dem Wiederabdruck, hier S. 303. Zur theatralen Verschränkung beider siehe auch den Beitrag von Vanessa Ganz in diesem Band.

3Frisch, Max: Schillerpreis-Rede, in: ders.: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge. 1931 – 1985, Bd. 5, 1964–1967, hrsg. v. Hans Mayer, unter Mitwirkung von Walter Schmitz, Frankfurt a. M. 1998, S. 362–369, hier S. 366.

4An dieser Stelle sei auf Jacques Derridas Überlegungen zu einer aus den Fugen geratenen Zeit verwiesen, die das Plädoyer beinhalten, „vom schwankenden, chaotischen und ungefügten Grund der Zeiten her [zu denken]. Einer aus den Fugen gegangenen und unbefestigten Zeit, ohne die es weder Ereignis noch Geschichte […] gäbe“. Derrida, Jacques: Marx’ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt a. M. 1995, S. 268. Die „Zeitform eines aus den Fugen gegangenen Präsens“ (ebd., S. 38) lässt sich für die folgenden Überlegungen als ein Potenzial szenischer Auffächerung und Vervielfachung der zeitlichen Perspektiven denken. Ich danke Michael Wehren für diesen Hinweis.

5Siehe auch: Klein, Christian: „Lebensbeschreibung als Lebenserschreibung? Vom Nutzen biographischer Ansätze aus der Soziologie für die Literaturwissenschaften“, in: ders. (Hrsg.): Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens, Stuttgart 2002, S. 69–85.

6Weiterführend hierzu Giorgio Agamben: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a. M. 2002.

7Kracauer: Die Biographie als neubürgerliche Kunstform, S. 120 f.

8Zur gewissermaßen zwingenden Bedeutung zeitlich logischer Szenen-Abfolgen, die auf eine Ur-Szene zurückgeführt werden, siehe den Beitrag von Sophie Witt in diesem Band.

9Kracauer: Die Biographie als neubürgerliche Kunstform, S. 120.

10Obwohl Biographien als Konstruktionen gelten können und müssen – und als solche auch zeigbar und vorführbar sind –, arbeitet das biographische Narrativ darüber hinaus oftmals auch mit affektiven Besetzungen, mit Lust, Begehren, Wünschen und Projektionen (beispielsweise die für die Bühne genutzte Lust der Kinder, erwachsen zu werden, in Gob Squads Before Your Very Eyes; siehe hierzu den Beitrag von Michael Wehren in diesem Band). Über dieserart Form der Übertragung kann nicht nur das Faktische in gewissem Sinne greifbar, sondern auch die Authentizität als Effekt erfahrbar werden und somit die distanzierte Position des Rezipierenden, z. B. im Angesicht von Metafiktion, mit einer potenziell affektgeladenen Erfahrung von Biographie interagieren.

11Einen systematischen Überblick zu den verschiedenen Formen biographischen Erzählens im Drama gibt Franziska Schößler: „Biographische Erzählungen auf der Bühne: Dramatik“, in: Klein, Christian (Hrsg.): Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien, Stuttgart/Weimar 2009, S. 143–148.

12Vgl. Nünning, Ansgar: „Von der fiktionalen Biographie zur biographischen Metafiktion. Prolegomena zu einer Theorie, Typologie und Funktionsgeschichte eines hybriden Genres“, in: von Zimmermann, Christian (Hrsg.): Fakten und Fiktionen. Strategien fiktionalbiographischer Dichterdarstellungen in Roman, Drama und Film seit 1970, Tübingen 2000, S. 15–36.

13Siehe hierzu die Übersicht auf der Website des Performancekollektivs, Online-Ressource, verfügbar unter URL: <http://www.sheshepop.de/produktionen/testament.html>, letzter Zugriff am 6. Juni 2013.

14Wild Card beim Theaterfestival Favoriten 2010, Auszeichnung ‚Bestes Gastspiel 2010‘ der Zeitung Göteborgs-Posten (Schweden), Friedrich-Luft-Preis 2011, Preis des Goethe-Instituts beim Impulse Festival 2011, Einladung zum Theatertreffen 2011.

15Für die zwei folgenden Produktionen allerdings scheint die Schwesternschaft Gefallen am klassischen Kanon gefunden zu haben. So wandte sie sich 2010 Anton Tschechows Drei Schwestern zu, die zu insgesamt 7 Schwestern. Ein Gruppenportrait frei nach Tschechow erweitert wurden (siehe Online-Ressource, verfügbar unter URL: <http://www.sheshepop.de/produktionen/7-schwestern.html>, letzter Zugriff am 6. Juni 2013), und im darauffolgenden Jahr mit She She Pop ist die Marquise von O. Heinrich von Kleist (siehe Online-Ressource, verfügbar unter URL: <http://www.sheshepop.de/produktionen/sheshe-p-ist-die-marquise-von-o.html>, letzter Zugriff am 6. Juni 2013).

16„In seinen raffinierten Reflexionsschleifen ist Testament vor allem: eine große Analyse unseres Zeitalters, der Epoche des ‚ökonomischen Menschen‘. Sie hinterfragt, ob Fürsorge und soziale Bindungen noch als absolute, unverhandelbare Werte denkbar sind, oder wie viel von unserem alltäglichen Dasein längst einem wirtschaftlichen Kalkül unterworfen ist. Taugt die Familie als Schutzmantel gegen die Zumutungen der Arbeitswelt, oder ist sie doch selbst ein Zweckhaushalt, in dem unausgesprochen nach Zeit- und Geldbudgets gerechnet wird? Mit bewundernswerter Klarheit lotet She She Pops Testament diesen Konflikt zwischen traditioneller ethischer und neuerer wirtschaftspraktischer Vernunft aus.“ Ausschnitt aus der Begründung der Jury zur Verleihung der Wild Card 2010 des Festivals Favoriten 2010 für Testament, Online-Ressource, verfügbar unter URL: <http://www.favoriten2010.de/index.php?article_id=273&clang=0.>, letzter Zugriff am 6. Juni 2013.

17Siehe hierzu die grundlegenden Ausführungen zum Einsatz so genannter In Ears Devices von Gerald Siegmund: „Der Knopf im Ohr, oder Wenn die Rede des Schauspielers zum Echo wird“, in: Die Praxis der/des Echo. Vom Widerhall in den Künsten, dem Theater und der Geschichte, hrsg. v. Veronika Darian, Micha Braun und Jeanne Bindernagel. Open-access-Publikation zum wissenschaftlich-künstlerischen Symposium (Februar 2013). Online-Ressource, verfügbar unter URL: <http://konferenz.uni-leipzig.de/echo2013/projekt/publikationen/beitraege/siegmund/>, letzter Zugriff am 2. Oktober 2013.

18Bourdieu: Die biographische Illusion, S. 309.

19Beide Zitate ebd. Hervorhebungen im Original.

20Lehmann, Hans-Thies: Das postdramatische Theater, Frankfurt a. M. 1999, S. 342. Ich verdanke den Hinweis Michael Wehren.

21So scheint beispielsweise die Kopräsenz verschiedener Medien beziehungsweise medialer Aufzeichnungsgeräte eine maßgebliche Strategie darzustellen, wenn es gilt, zeitliche und räumliche Schichtungen und deren Begegnung beziehungsweise gleichzeitige Anwesenheit zu zeigen und erfahrbar zu machen.

22Szondi, Peter: Theorie des modernen Dramas. 1880 – 1950, Frankfurt a. M. 1970.

23Vgl. Kracauer: Die Biographie als neubürgerliche Kunstform, S. 121 f.

24Ebd., S. 120.

25Benjamin, Walter: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows (1936/37), in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 2.2, Frankfurt a. M. 1977, S. 438–465.

26Ebd., S. 439.

27Ebd., S. 440.

28Vgl. ebd., S. 442.

29Ebd., S. 444.

30Vgl. Heeg, Günther: „Szenen“, in: Bosse, Heinrich/Renner, Ursula (Hrsg.): Literaturwissenschaft. Einführung in ein wissenschaftliches Sprachspiel, Freiburg 1999, S. 225–244, hier v. a. S. 229 ff. Ich danke ihm selbst für diese fruchtbare Fährte.

31Hans-Thies Lehmann beobachtet, wenn auch zeitlich versetzt, ein „in der Medienwelt verlorengegangenes Erzählen“, das im postdramatischen Theater „eine neue Stätte“ gefunden habe. Vgl. ders.: Das postdramatische Theater, S. 197. Wenngleich Benjamin dem Erzählen keine neue Stätte im Theater errichtet, entwickelt er im Folgenden dennoch die Vision einer Szene des Erzählens, in der im wahrsten Sinne eine neue Heimstatt des (auch biographischen) Erzählens zu entdecken ist.

32Benjamin: Der Erzähler, S. 440.

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